PELLE KEHRT HEIM

was vorher geschah …

Die Fahrt zur Rabenklippe

Es ist empfindlich kalt geworden. Als Anatol, Elie, Mina und ich das Haus im Morgengrauen verlassen, weht uns ein eisiger Wind entgegen. Anatol zieht sich den Kapuzenschal tief ins Gesicht. Beklommen sieht er mich an. Auch mir ist nicht wirklich wohl zumute. Tun wir gerade das Richtige? Aber es ist zu spät für derlei Überlegungen: Pelle wartet am Treffpunkt auf uns.

Im Auto ist es so kalt, dass man seinen Atem sehen kann. Das Lenkrad ist eisig – ich behalte meine Handschuhe an. Neben mir auf dem Beifahrersitz haben sich Anatol, Elie und Mina dicht aneinander gekuschelt – vor Kälte zitternd drücken sie sich gegeneinander.

Endlich springt der Motor an. Wir haben eine lange Reise vor uns.

Unsere erste Etappe ist die Tankstelle in Kehl. Hier tanken wir das Auto auf, prüfen den Reifendruck, säubern die Windschutzscheibe und kaufen eine Packung Kaugummi. Kaugummi ist ein wichtiger Proviant und darf auf keiner Reise fehlen.

Dann starten wir in Richtung Hainberg. Unser Auto – ein Kleintransporter – fühlt sich bis Tempo 90 wohl – fahren wir schneller, beginnt das Fahrzeug klagende Laute auszustoßen und sich zu schütteln. Daher zockeln wir mit 90 Stundenkilometern auf der Kriechspur gen Norden.

Als wir Frankfurt erreichen, ist es schon Nachmittag. Ich bin so müde, dass ich einen Rastplatz ansteuere. Ich verriegle das Auto von innen und setze mich auf den Beifahrersitz, dessen Lehne ich so weit wie möglich herunterschraube. Dann weise die Butler an, mich nicht zu stören – und schlafe augenblicklich ein.

Als ich erwache, ist alles um mich herum dunkel. Wie lange muss ich geschlafen haben? Ich reibe mir die Augen. Dann merke ich, dass wir nicht mehr auf dem Rastplatz stehen, sondern dass das Auto offenbar fährt – und zwar gelenkt von Mina! Entsetzt schüttle ich mich – ich muss noch schlafen und dies alles träumen! Aber nein: Mina sitzt tatsächlich am Lenkrad: wir fahren!

Wo sind die Butler? Ich werfe einen bangen Blick nach links – da sitzen sie: Elie im Fußraum an Gaspedal, Bremse und Kupplung, Anatol am Schaltknüppel! Ich will gerade vor Schreck laut aufschreien, da befiehlt Mina mit ruhiger Stimme: „Bitte hochschalten in den 5. Gang. Dann beschleunigen auf 90 km/h. Geschwindigkeit beibehalten. Wir erfahren zur Zeit keine Turbulenzen. Danke!“

Fassungslos sehe ich Elie mit aller Kraft seinen Gipsarm auf das Kupplungspedal drücken, während Anatol den Schaltknüppel in die Position „5. Gang“ bringt. Dann lässt Elie das Pedal behutsam zurückkommen und drückt gleichzeitig aufs Gaspedal. Als die 90 Stundenkilometer auf dem Tacho erreicht sind, meldet Mina „Wir haben unsere Höchstreisegeschwindigkeit erreicht. Bitte so beibehalten. Ende der Durchsage. Danke!“

Ich ergebe mich meinem Schicksal, schließe die Augen und stelle mich schlafend. Das offenbar eingespielte Pilotenteam möchte ich auf keinen Fall durcheinanderbringen. Wo haben die Biester das Autofahren gelernt? Ich nehme mir vor, nach dieser Reise genauere Nachforschungen anzustellen.

Wir befinden uns noch auf der Autobahn – das stelle ich beim vorsichtigen Blinzeln fest. Da stockfinstere Nacht ist, scheint den uns überholenden Fahrern nicht aufzufallen, dass eine winzige Stoffkuh unser Auto lenkt. Vielleicht denken die anderen Autofahrer aber auch, der Lieferwagen sei eine englische Konstruktion – mit dem Steuerrad auf der rechten Seite.

Wie spät mag es sein? Ich schiele hinüber auf das Armaturenbrett: 21 Uhr 50 – bald zehn Uhr. Wie kann ich so lange geschlafen haben? Ich muss vollkommen übermüdet gewesen sein. Bald nicke ich wieder ein. Das Auto scheint in guten Händen…

Gegen Mitternacht reisst mich eine erneute Meldung von Mina aus dem Schlaf. „Wir nähern uns nun dem Hainberg. Links befinden sich die Schillerwiesen. Ich erbitte Lotsenweisung!“

Ich entschließe mich, so zu tun, als sei nichts normaler, als von einer schwarz-weissen Stoffkuh und zwei Plüschdinosauriern nachts durch die Gegend kutschiert zu werden und bemerke „Bitte gleich links in die Calsowstraße einbiegen. Dann scharf rechts, und dann geradeaus – bis zur Langen Nacht.“

Kurze Zeit später sind wir dort. Die Lange Nacht ist indessen – wie ihr Name bereits vermuten lässt – lang. Auf welcher Höhe wartet Pelle auf uns? Wir sehen uns unschlüssig an.

Anatol meint, wir sollten das Auto am Wegrand abstellen und aussteigen. Bestimmt würde uns Pelle als echter Luchs sofort wittern. Mina möchte nun lieber in meinen Rucksack klettern, ebenso Elie und sogar Anatol. Sicher ist sicher.

Wir verlassen das Auto. Kühle, feuchte Waldluft, die wir durstig einatmen, weht uns entgegen. Wir entscheiden uns, den Waldweg zu nehmen und tiefer in den Wald vorzudringen. Pelle kann nicht weit sein.

Der Wald schläft nie. Nachts erwacht ein unbekanntes Leben – mit all seinen Geräuschen und  Regungen… Ein Käuzchen ruft – ein zweites anwortet. Der klagende Laut lässt uns erschauern. Da – ein Rascheln neben uns… dann knackt etwas. Tief im Wald ertönt das Kreischen von Nachttieren.

Ein raues, heiseres Flüstern ertönt. „Ich bin hier. Ich – Pelle!“ Aus dem Dunkel des Waldes löst sich ein riesiger Schatten und kommt näher.

Pelle steht vor uns – und erscheint mir größer denn je. Ob es die späte Stunde, der lange Weg und nun die Nachtwanderung durch den verwilderten Hainberg ist – ich weiss es nicht: das Herz rutscht mir tief in die Hose, als ich den riesigen Luchs so nah vor mir sehe. Die Saurier und Mina im Rucksack schlottern vor Angst, das spüre ich deutlich sogar durch meinen dicken Wintermantel hindurch.

Mit zitternder Stimme sage ich „Guten Abend Pelle! Wir sind endlich da… möchtest Du wirklich mit uns mitkommen…?

Gefasst nickt der Luchs. „Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid. Ihr seid meine einzigen, echten Freunde. Danke.“

Ich schäme mich zutiefst, dass ich immer noch Angst vor Pelle habe. Aber mit seiner Rumpfhöhe von 70 cm ist der Luchs ein sehr eindrucksvolles Tier.

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Anatol fasst sich ein Herz und hüpt aus dem Rucksack heraus. „Pelle, es ist toll, dass Du da bist! Komm mit – da vorn steht das Auto. Wir haben Dir ein richtig schönes, weiches Bettchen vorbereitet!“

Unschlüssig sieht Pelle uns an. „Ein Bettchen…? Ich weiss nicht genau, was das ist?“

„Das macht nichts, dass Du das nicht weisst. Aber es gefällt Dir bestimmt!“ piepst Mina mutig aus dem Rucksack heraus.

Pelle nickt. „Sicher werde ich es mögen. Wenn Ihr es mir doch zurechtgemacht habt!“

Der Luchs folgt uns bis zum Auto, und ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen, steigt er in den Fond. Er spürt die weiche Decke unter seinen Pranken und brummt zufrieden „Und ob mir das gefällt!“

Dann rollt er sich auf dem improvisierten Luchs-Bettchen zusammen, schließt die Augen und flüstert „Ihr könnt losfahren.“

Ich setze mich ans Steuer und bin froh, die Macht über das Fahrzeug wieder zurückgewonnen zu haben. Eine Polizeikontrolle mit Mina am Steuer und Anatol sowie Elie an Kupplung und Gangschaltung – nein, das mag ich mir nicht vorstellen. Zumal im Fond nun der brav schnarchende Luchs liegt.

Unser Weg führt uns über Northeim, Seesen und Goslar bis nach Bad Harzburg. Dort steuern wir die Rabenklippe am Luchsgehege an. Als ich Anatol anweise, mir den genauen Weg auf der Karte herauszusuchen, hebt Pelle den Kopf und spitzt die Pinselohren. Unruhig rutscht er auf seinem Kissen hin und her.

Gehege sagst Du…? Davon war bisher nicht die Rede. Ich lasse mich nicht in einen Käfig sperren!“

Der Luchs fährt die riesigen Krallen aus und schlägt sie in den Gummibelag des Fonds. Dann lässt er ein leises, aber deutlich zu vernehmendes Knurren hören.

Etwas zittrig erläutert Elie, dass es sich bei dem „Gehege“ nicht um einen Käfig handele. Es sei vielmehr der Teil des Luchsprojekts, an dem Besucher manche Luchse bei der Fütterung beobachten könnten – wenn die Luchse sich denn zeigen wollten. Wir steuerten diesen Teil des Nationalparks an, weil sicher sei, dass Pelle dort zu fressen finden würde.

Lautlos zieht der Luchs seine Krallen aus der Verkleidung. Das Knurren verstummt. „Bitte entschuldigt, meine Freunde. Ich bin sehr aufgeregt, und weiss nicht, wie mein neues Leben aussehen wird. Deshalb reagiere ich ungehalten, wenn ich etwas nicht richtig einordnen kann. Ich bitte Euch, mir das nachzusehen.“

Anatol nickt dem Luchs zu. „Ich kann Dich verstehen, Pelle. Aber ich bin sicher, dass es Dir dort gefallen wird.“

Sind wir wirklich sicher? Ich selbst habe alles andere als Gewissheit über die Zukunft von Pelle. Ich verscheuche die Zweifel. Erste Schilder weisen auf das Luchsgehege hin – und auf den Gasthof Rabenklippe, der allerdings jetzt (es ist mittlerweile 3 Uhr früh) noch nicht geöffnet ist.

Mir fallen die Augen zu, als ich einen etwas versteckten Rastplatz kurz vor der Rabenklippe ansteuere. Hier möchte ich, bevor wir Pelle in die Freiheit entlassen, noch kurz ausruhen. Ich parke den Wagen an einer wenig einsehbaren Stelle, schalte den Motor und das Licht aus und lehne mich zurück. „Wir fahren bald weiter“, sage ich und schließe die Augen.

Ein nachdrückliches Klopfen ans Fenster lässt mich aufschrecken. Neben dem Auto steht jemand und bedeutet mir, das Fenster zu öffnen. Mein Herz setzt einen Moment aus.

Bei der Dame an der Fahrertür handelt es sich um eine Streifenpolizistin. Der Streifenwagen parkt hinter uns, ein Kollege steht einsatzbereit daneben. Wie erkläre ich den Ordnungshütern, was ich mit einem ausgewachsenen Luchs im Fond mitten in der Nacht auf diesem Parkplatz will?

Langsam kurbele ich das Fenster herunter. Währenddessen bemerke ich, dass die Saurier und Mina flugs nach hinten den Fond klettern. Mina zischelt Elie zu „Die Ohren! Hol die Häkelohren aus dem Rucksack!“

Die Polizistin bittet mich höflich, aber bestimmt um die Fahrzeugpapiere. Ich krame nervös im Handschuhfach und präsentiere einen Haufen eselsohriger Dokumente. Ängstlich erkläre ich, dass es sich um ein Mietauto handele, weshalb ich auch nicht im Fahrzeugschein genannt sei.

„So so, ein Mietauto. Ihren Ausweis und Führerschein, bitte.“

Eilig erkläre ich, dass ich als im Ausland wohnhafte Deutsche keinen Personalausweis, wohl aber einen gültigen Reisepass besäße. Mit zitternden Händen strecke ich der Polizistin alles entgegen. Sie studiert jedes Papier genauestens, dann gibt sie mir die Dokumente zurück.

„Darf ich fragen, was Sie um diese Uhrzeit hier tun?“

Was tut jemand wie ich um 3 Uhr morgens auf einem verlassenen Rastplatz am Harz? Ich stottere… dass wir die ganze Nacht durchgefahren seien, um ganz früh morgens – im Morgengrauen sozusagen! – das Luchsgehege zu besuchen, und ich nun noch etwas Schlaf habe finden wollen, bevor es  auf die Wanderung am Luchsgehege gehen solle…

Unsicher blicke ich in das Gesicht der Polizistin. Die Unwahrheit sage ich nicht, die ganze Wahrheit aber auch nicht. Glaubt mir die Gesetzeshüterin?

„Sie sagen ‚wir‚. Ist denn noch jemand mit Ihnen angereist?“

Siedend heiss fällt mir ein, dass die Saurier und Mina keine Mitreisenden sind, die ich der Polizistin vorstellen kann. Ich druckse unschlüssig herum – da wirft die Dame einen Blick in den Fond und erblickt das riesige Tier. Sie knipst ihre Taschenlampe an und leuchtet nach hinten ins Auto. Das ist das Ende, denke ich.

„Ist das Ihr Hund?“ fragt die Polizistin. „So ein großes Tier habe ich selten gesehen.“ Und etwas misstrauisch: „Was ist das denn für eine Rasse?“

Ich drehe mich um und sehe einen sich verzweifelt schlafend stellenden, zusammengerollten Eurasischen Luchs mit Häkelschlappohren.

Wenn man dies indessen nicht weiss, kann man Pelle mit seinen Hängeohren tatsächlich für einen Hund halten. Ich räuspere mich und sage mit belegter Stimme „Das ist Pelle – ein Hovawart-Malinois-Labrador-Mischling.“

Leise, aber mit Nachdruck füge ich hinzu: „Er ist sehr lieb, mag aber von Fremden ganz sicher nicht angefasst werden.“

„Hat Pelle denn auch Papiere dabei?“ fragt die Polizistin streng. „Sie wissen ja, dass das Vorschrift ist.“

„Ja“, lüge ich. „Pelle hat natürlich Papiere …“ Ostentativ beginne ich, in meinem Rucksack zu kramen, der auf dem Beifahrersitz liegt, während ich fieberhaft nach einer Ausrede suche. Selbstverständlich hat Pelle keine Papiere – woher auch.

Nun vernehme ich ein leises Raunen aus dem Fond. „Ich habe den EU-Ausweis von Edwige mitgenommen! Im Rucksack vorn!“ Mina ist einfach unbezahlbar.

„Da haben wir die Papiere – bitte schön!“ Triumphierend überreiche ich der Polizistin einen blauen EU-Heimtierausweis.

Stirnrunzelnd blättert die Beamte in dem Dokument. „So, Pelle heisst also Edwige, ist eine getigerte Hauskatze und wiegt 5 kg…?“

Sie gibt mir den Ausweis zurück und kratzt sich am Kopf. „Horst, nehmen wir den Hund in Gewahrsam? Es wird kein gültiger Ausweis mitgeführt.“

Horst tritt einen Schritt zurück. „Du kannst dieses Riesentier gern mitnehmen. Aber dann gehst Du mit ihm zu Fuß zur Wache. Du weisst doch, dass ich eine Hundephobie habe!“

Ich fange derweil das Bitten und Betteln an. „Ich muss mich vertan haben! Das ist der Impfpass meiner Katze Edwige. Man muss mir zu Hause den falschen Pass mitgegeben haben …“

Die Polizistin nimmt ihr Handy. Sie werde auf der Wache anrufen und um Verstärkung bitten. Nachdem sie die Nummer mehrfach eingegeben hat, ist klar, dass der Anruf nicht ankommen wird: wir haben kein Netz.

Der Streifenwagen verfügt hingegen über einen Fernsprecher. Diesen könnte – und müsste – sie nun von Rechts wegen betätigen, sagt die Polizistin uns. Seufzend fügt sie hinzu, sie wolle uns unseren Wochenendausflug aber nicht gänzlich verderben – und trägt uns auf, schnellstens einen gültigen Heimtierausweis für Pelle zu beschaffen, diesen immer mitzuführen und Pelle nur angeleint aus dem Auto zu lassen.

Dann steigt sie in den Streifenwagen, in den sich ihr hundephobischer Kollege bereits geflüchtet hatte, und fährt weg – während ich den Ordnungshütern unter Dankesrufen nachwinke.

Kaum sind die Polizisten außer Sichtweite, falle ich in mich zusammen. Anatol kriecht stöhnend unter dem Fahrersitz hervor. „Das war knapp!“ ächzt er.

Pelle reisst sich die Häkelohren vom Kopf und beginnt, sich im Fond um sich selbst zu drehen. „Ich will raus!“ ruft er. „Ich war noch nie so lange in einem so kleinen Raum. Lasst mich raus, schnell!“

Der Luchs scheint einen klaustrophobischen Anfall zu erleiden – ich springe aus dem Auto und öffne die Tür zum Fond. Mit einem riesigen Satz springt der Luchs aus dem Fahrzeug heraus und verschwindet im Wald.

Anatol, Elie und Mina stürzen aus dem Auto heraus – aber Pelle ist weg. Ich setze mich in den Schotter des Parkplatzes und verberge mein Gesicht in den Händen. Elie beginnt zu schluchzen, während Anatol und Mina hinter Pelle her in den Wald laufen.

Tief am Horizont leuchtet leise ein erster Morgenstrahl auf.

Ich verschließe das Auto, setze Elie in den Rucksack und dringe meinerseits in den tiefen Wald ein.

Kurze Zeit später hat uns das Dickicht so verschluckt, dass weder der Rastplatz noch das Auto zu sehen sind. Anatol und Mina sind nicht weit vor uns – wir hören ihr atemloses Flüstern.

Aber wo ist Pelle?

Wir stolpern weiter durch das Unterholz – und befinden uns endlich auf einer Lichtung. Mitten auf dem lichten Waldstück steht Pelle – die Nase flehmend im Wind. Er hebt die Tatze und ruft uns zu: „Ich kann die anderen Luchse wittern. Es ist nicht mehr weit bis nach Hause. Ich danke Euch, meine Freunde. Ich muss Euch nun verlassen. Lebet wohl!“

Ein letztes Mal winkt uns der Luchs zu. Dann dreht er sich um und verschwindet lautlos im Wald.

Ob wir ihn jemals wiedersehen werden?

Übermüdet, schweigsam und seltsam gedrückt kehren wir zum Rastplatz zurück. Elie verkriecht sich wortlos im Rucksack, Anatol und Mina kuscheln sich in das nun verlassene Luchsbettchen und schlafen ein.

Ich setze mich ans Steuer und fahre bis zum Gasthof Rabenklippe. Als dieser endlich öffnet, bestelle ich ein reichhaltiges Frühstück und einen starkem Kaffee.

Die Luchsfütterung verschlafe ich am Frühstückstisch.

Am frühen Nachmittag machen wir uns auf den Rückweg. Reden möchte zunächst niemand.

Mina spricht endlich das aus, was wir alle fühlen. „Ob Pelle seine Familie wiederfindet? Wird er dort glücklich werden?“

Wir wünschen es Pelle von ganzem Herzen.

 

Epilog:

Zwei Jahre später – es ist ein milder Sommerabend, wir sitzen auf dem schattigen Balkon und genießen die Abendluft – fliegt die Krähe der Tierklinik auf die Balkonbrüstung. Sie hält ein zusammengefaltetes Papier im Schnabel, spuckt es uns vor die Füße (die Krähe hat zuweilen ein etwas rudimentäres Benehmen) und schnarrt „Post von Pelle!“ – Mit einem „Und Tschüss!“ hebt sie ab und gleitet durch die Lüfte zurück in Richtung Hainberg.

Elie hebt das Papier auf und gibt es Anatol, der es auffaltet.

Das Blatt ist nicht beschrieben, aber seine Aussage ist klar. Fünf Pfotenabdrücke sind darauf zu sehen: der einer riesigen Pranke, die wir als Pelles erkennen. Daneben eine nur unwesentlich kleinere, aber zartere, feinere Tatze – und darunter drei winzige Pfötchen, die mit etlichen Kleksen und Verschmierungen garniert sind.

Pelle, da sind wir sicher, hat sein Glück gefunden.

 

AUF DER SUCHE NACH PELLES ZUHAUSE

… was vorher geschah

Ein paar Tage später darf Elie die Zwergenklinik verlassen. Dank des eindrucksvollen Gipsverbands um seinen Arm wird er bei Anna als Held auftreten können. Stolzgeschwellt schlenkert er seinen Gipsarm vor sich her.

Anatol ist seit unserem Abend in der Hainbergschänke in seinen Computer versunken. Stundenlang sucht er das Internet ab, sagt aber nicht, wonach. Von Zeit zu Zeit gibt er ein unwilliges Knurren von sich – und haut dann in die Tasten, dass es kracht. Wenn der Saurier in dieser Stimmung  ist, stört man ihn besser nicht.

Heute früh scheint Anatol jedoch bester Laune. Als ich wie üblich um 5 Uhr 30 die Küche betrete, ist der Saurier bereits wach und hat einen starken Kaffee aufgebrüht. Oder ist er etwa gar nicht ins Bett gegangen?

Anatol beantwortet meine stille Frage: „Ich habe die ganze Nacht im Internet gesurft. Und ich habe endlich die Lösung für Pelle gefunden. Hier!“

Aufgeregt streckt er mir das Tablet entgegen. Dort sehe ich die Webseite des Luchsprojekts Harz. Ich bin sprachlos – es gibt ein Luchsprojekt? Davon habe ich noch nie gehört. Sofort vertiefe ich mich in die Homepage. Dort lese ich, dass das Luchsprojekt Harz sich um die Wiederansiedlung des europäischen Luchses im Harz kümmert – ich bin sehr beeindruckt:

Die intensive Verfolgung durch den Menschen führte vor rund 200 Jahren in Mitteleuropa zum Aussterben des Eurasischen Luchses. In den 1970er Jahren wurden die Bemühungen verstärkt, die verbliebenen Vorkommen der Tierart zu schützen. Wiederansiedlungsprojekte in einigen europäischen Staaten führten zur Etablierung kleinerer Luchs-Populationen insbesondere im Alpenraum aber auch z.B. im deutsch/tschechischen Grenzbogen.

Noch sind diese Luchsvorkommen relativ klein und nicht alle stehen in Verbindung miteinander. Weitere Wiederansiedlungsprojekte und Maßnahmen, die es großen Wildtieren ermöglichen auch über weite Entfernungen durch unsere Kulturlandschaft zu wandern, können helfen nicht nur das Überleben des Luchses zu sichern.

Mit dem Luchsprojekt Harz wurde Anfang 2000 erstmals in Deutschland ein Wiederansiedlungsversuch für die größte europäische Katze gestartet.

Zwischen Sommer 2000 und Herbst 2006 wurden im Nationalpark Harz insgesamt 24 Luchse (9 Männchen und 15 Weibchen) in die Freiheit entlassen. Alle ausgewilderten Tiere sind Gehegenachzuchten aus europäischen Wildparks, die vor der Freilassung in einem vier Hektar großen Auswilderungsgehege im Nationalpark in den neuen Lebensraum eingewöhnt worden waren.

Anatol unterbricht ungeduldig meine Lektüre. „Ich bin sicher, dass Pelle ursprünglich von dort kommt! So weit ist der Harz nicht von der Tierklinik entfernt… Pelle muss immer weitergewandert sein, bis er schließlich in diese schreckliche Falle geriet. Zum Glück war er da schon in der Nähe der Klinik. Wer weiss, was sonst aus ihm geworden wäre …“

Ich sehe vom Tablet hoch. „Wir müssen Pelle in den Harz zurückbringen! Dort ist seine Heimat… ich bin sicher, dass er dort auch versorgt wird. Er kann ja nicht selbst jagen. Dort wäre er endlich wieder unter seinesgleichen!“

Anatol nickt. „Genau das ist auch meine Idee. Nun müssen wir das nur noch Pelle vorschlagen. Hoffentlich möchte er überhaupt wieder dorthin zurück …“

Nun kommt Elie in die Küche – den Gipsarm wie eine Monstranz vor sich hertragend.

„Ihr wollt Pelle bis in den Harz bringen? Wie soll denn das gehen? Ins Fahrradkörbchen passt er jedenfalls nicht!“

Dies stimmt allerdings. Für Pelle werden wir eine Mitfahrgelegenheit brauchen, sprich: ein Auto, denn mit der Bahn werden wir Pelle nicht transportieren können. Aber ob ein Luchs überhaupt Auto fährt? Und wo soll Pelle „zusteigen“? Die Tierklinik ist mit dem Auto nicht zu erreichen …

Anatol errät meine Gedanken. „Beim Transport müssen uns die Zwerge helfen. Die werden schon eine Idee haben. Hoffe ich jedenfalls! Wir können eventuell das Carsharingauto für den Transport verwenden, was meint Ihr…?“

Auf diese Frage gibt Wikipedia eine klare Antwort:

Mit einer Kopfrumpflänge zwischen 80 und 120 Zentimetern und einer Schulterhöhe von 50 bis 70 Zentimeter ist der Luchs die größte Katze Europas.

In Mitteleuropa wiegen männliche Luchse, die in der Jägersprache auch als „Kuder“ bezeichnet werden, je nach Region im Durchschnitt zwischen 20 und 25 Kilogramm, wobei besonders leichte Exemplare nur 14 Kilogramm wiegen und sehr schwere Tiere ein Körpergewicht von 37 Kilogramm erreichen können.

Um Pelle, bei dem es sich um ein „ziemlich großes Exemplar“ handelt, zu transportieren, werden wir also mindestens einen Kleintransporter benötigen. Der arme Kerl soll sich auf der Reise in den Harz schließlich nicht zu beengt fühlen. Eine Autofahrt mit einem Luchs-Passagier, der einen klaustrophobischen Anfall erleidet, möchte ich mir nicht vorstellen.

Bevor wir der Luchsumsiedelung indessen näher treten, müssen wir Pelle fragen, ob er überhaupt in den Harz möchte. Vielleicht hat er sich ja nun doch so im Hainberg eingelebt, dass er gar nicht mehr weg will?

Am frühen Vormittag wählt Anatol die Telephonnummer der Tierklinik. Die Ameise hebt vorschriftsmäßig ab.

„Sie sind mit der Zentrale der Tierklinik der Zwerge verbunden. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Anatol erklärt der Ameise, dass er mit Pelle, dem Luchs sprechen wolle. Ob sie ihn bitte ans Telephon holen würde? Er könne auch etwas später wieder anrufen, wenn sie den Luchs nicht gleich finden würde …

„Bitte nicht auflegen!“ schnarrt die Ameise in den Hörer. Dann hört man ein leises Schaben – das Insekt krabbelt offenbar das Telephon herunter. Dass man dies durch den Fernsprecher mitbekommt, ist eine technische Meisterleistung, die wir Mina zu verdanken haben. Sie hatte bei einem ihrer Besuche das Telephon auf die leise Stimme der Ameise eingestellt, die man oft kaum hatte verstehen können.

Bange Minuten des Wartens verstreichen. Ist Pelle überhaupt da? Seine Streifzüge durch den Wald können sich über Tage hinziehen – das haben wir auf der Webseite des Luchsprojekts gelesen …

Dann vernehmen wir ein Klappern – der Hörer wird aufgenommen. Eine riesige Pranke scheint das Gerät zu umklammern, dann erklingt eine rauhe, wohlbekannte Stimme:

„Hier spricht Pelle. Pelle, der Luchs. Sie haben nach mir geschickt? Wer ist am Apparat, bitte?“

Anatol hüpft vor Freude mit dem Telephon durch den Flur. „Huhu Pelle! Hier ist Anatol! Wir haben Neuigkeiten für Dich!“

Atemlos erzählt Anatol dem Luchs von seiner Idee. Von Pelles alter Heimat im Harz, vom Luchsprojekt, dem Luchsgehege, in dem er immer Futter finden würde… und vor allem von den anderen Luchsen, die dort ebenfalls lebten: Pelles Familie!

Als Anatol Luft holen muss, ist Stille am anderen Ende der Leitung. „Pelle?“ fragt Anatol. „Bist Du noch da?“

Er schüttelt den Hörer – und vernimmt plötzlich ein markerschütterndes Schreien, das aus der Tierklinik zu kommen scheint. „Hilfe! Hilfe!“ kreischt es durch die Leitung, während wildes Getrappel und Gelärme im Hintergrund ertönt. Dann scheint ein offenbar größerer metallischer Gegenstand mit Getöse zu Boden zu gehen, woraufhin ein entsetztes Quieken erklingt.

„Pelle, was ist los?!“ ruft Anatol erschrocken ins Telephon.

„Ich rufe zurück!“ seufzt der Luchs – und legt auf.

Anatol guckt ratlos in den Hörer, als ob er darin sehen könnte, was eben geschehen ist. Dann legt er auf und sieht zu mir hoch. „Was ist da nur…?“ weint er los. Ich kann mir keinen Reim auf das seltsame Vorkommnis machen. Es bleibt uns nicht anderes übrig, als auf Pelles Rückruf zu warten …

Da! Das Telephon schrillt. Anatol reisst den Hörer ans Ohr – es ist Pelle!

„Ich bin nach nebenan in die Schänke des großen Zwergs gegangen. Hier gibt es auch ein Telephon.“

Pelle stößt einen tiefen Seufzer aus. „Die Patienten im Wartezimmer drüben in der Klinik haben mich gesehen, wie ich an der Aufnahme stand und mit Euch telephoniert habe … ein krankes Kaninchen muss bei meinem Anblick sehr erschrocken sein, und das hat bei den anderen Patienten zu einer Massenpanik geführt …“

Pelle klingt resigniert. „Dabei habe ich mich dem Wartezimmer nicht einmal genähert. Das Kaninchen, die Mäusefamilie, der Fuchs und die Waldtaube sind aber so in Angst und Schrecken geraten, dass sie bei ihrer überstürzten Flucht  aus dem Wartezimmer alles umgerissen haben und auf dem Gang eine Transportliege mit einem darauf gebetteten verletzten Siebenschläfer umgeworfen haben.

Wisst Ihr … eigentlich wollte ich vorhin sagen, macht Euch keine Mühe mit mir und lasst mich im Hainberg weiter vor mich hinleben. Aber das Vorkommnis eben … das war zu viel. Ich möchte weg von hier. Alle Tiere haben Angst vor mir, und ich kann es einfach nicht ändern.“

Hier versagt dem Luchs die Stimme. Er beginnt zu weinen. Mit letzter Kraft schafft er es noch, zu schluchzen: „Ich warte in der Nähe der Langen Nacht auf Euch. Dort könnt Ihr mich abholen. Bitte kommt bald!“

Bevor Pelle auflegt, ruft Anatol noch ins Telephon: „Halt durch, Pelle! Wir holen Dich morgen da ab!“

Dann sieht Anatol mich ratlos an. „Schaffen wir das überhaupt – ihn Morgen abzuholen und in den Harz zu bringen …?“

Ich rufe die Webseite des Carsharings auf und suche nach dem Kleintransporter, den wir für unsere letzte große Entrümpelungsaktion genutzt hatten und in dem wir Kubikmeter von Dingen zum Emmaüs gebracht hatten. Dieses Auto, so scheint mir, sollte groß genug sein, um Pelle in den Harz zu bringen.

Kurze Zeit später ist das Auto reserviert. Als wir es abholen, um es für die Reise unseres Luchses vorzubereiten, fällt uns auf, dass auch der hintere Teil  des Transporters Fenster hat – und daher von außen gut einsehbar ist.

Anatol kratzt sich am Kopf. „Das ist ungünstig,“ meint er. „Was, wenn wir mal anhalten – oder tanken … dann kann jeder da reingucken und Pelle sehen. Wir müssen Pelle tarnen. Aber wie? Mit einer Decke vielleicht?“

Ich halte das für keine gute Idee. Pelle wird unter der Decke noch recht gut zu erkennen sein – und wenn wir in eine Verkehrkontrolle geraten, bei der man uns fragt, was für einen riesigen Gegenstand wir denn da unter der Decke haben … mir graut allein bei dem Gedanken daran.

Elie hat die rettende Idee. „Wir verkleiden Pelle einfach als sehr großen Hund – warum nicht als Labrador? Ich kann Pelle ein paar ganz tolle Labrador-Ohren häkeln! Das haben wir letzten Sommer in der Amnestygruppe bei „Häkeln für den Frieden“ gelernt! Anna hatte ganz tolle Katzenohren, und ich hatte Drachenohren. Aber jetzt kann ich für Pelle Schlappohren häkeln. Dann sieht niemand, dass er ein Luchs ist!“

Anatol stößt ein gequältes Lachen aus. Er ist nicht überzeugt von der Idee.

Elie fragt pikiert „Hast Du denn eine bessere Idee?“ – dies ist nicht der Fall. Einen Einwand hat Anatol allerdings: „Wie willst Du mit Deinem Gipsarm eigentlich häkeln?“

Elie wird puterrot. Sein Gips, auf den er so stolz ist, wird nun zum Problem: daran hatte er offenbar nicht einmal gedacht. Glücklicherweise hat er eine Lösung in petto: Mina kann den Faden halten, während er mit dem Häkelhaken hantiere… so müsse es klappen!

Während Anatol und ich Decken und Kissen zusammensuchen, um eine Art „Luchsbettchen“ im hinteren Fahrzeugteil zu bauen, ziehen Mina und Elie sich in ihr Zimmer zurück und beginnen mit Feuereifer, zu häkeln.

An diesem Abend gehen wir früh ins Bett –  aber schlafen können wir vor Aufregung nicht. Erst kurz vor dem Morgengrauen finde ich etwas Schlaf.

Bald klingelt der Wecker.

Unser Luchs-Abenteuer beginnt.

zur Fortsetzung!

 

 

 

 

 

PELLE DER LUCHS

„Gib mir sofort mein Tablet wieder!“ schreit Elie wütend. Sein Ärger richtet sich an Anatol, der das begehrte Tablet seit heute Nachmittag mit Beschlag belegt hat. „Ich muss meine Hausaufgaben fertig machen – morgen muss ich den Aufsatz über die Gebäudeautomation abgeben!“

Anatol – er hatte bisher schmökernd im Dino-Nestchen gelegen – sieht nun tatsächlich von dem Tablet auf und zieht die Augenbrauen hoch. „Du musst – … was?!“

Ich bin ebenfalls perplex. Dass man Schulaufgaben auf einem Tablet erledigt, hatte ich bereits erstaunt zur Kenntnis nehmen müssen – aber was es mit der Gebäudeautomation auf sich hat, das ist sowohl mir als offenbar auch Anatol ganz unerfindlich.

Elie nutzt den kurzen Moment der Unaufmerksamkeit Anatols, um diesem das Tablet wegzuschnappen und mit einem Satz vom Regal zu hüpfen. Dabei übersieht er, dass Anatols schlampig aufgehängter Schal direkt vor dem Regal baumelt, verfängt sich mit einem Fuß darin – und anstatt mit einem eleganten Satz elastisch auf dem Parkett zu landen, stürzt der kleine Saurier mit wild in der Luft rudernden Armen vom Regal, überschlägt sich einmal – und klatscht der Länge nach auf den Fußboden. Das Tablet kommt etwas weiter scheppernd zum Liegen.

Dies alles geschieht innerhalb nur einer Sekunde – Anatol und ich sehen hilflos auf das Geschehen, ohne irgendetwas tun zu können.

Nun stürze ich schreckerfüllt zu Elie, der sich stöhnend aufzurichten versucht. „Bleib liegen, Elie!“ ruft Anatol. „Nicht bewegen, das kann gefährlich sein!“

Ich sehe sofort, dass Elies Vorderpfote seltsam abgeknickt absteht. Es gibt keinen Zweifel: die Pfote ist bei dem Sturz gebrochen. Elie wird blass, als er sein Beinchen ansieht – ich fürchte, dass er das Bewusstsein verlieren wird, wenn wir nicht schnell etwas tun.

Leider sind meine Kenntnisse in erster Hilfe rudimentär. Ich rufe Anatol zu, er solle eine Serviette in kaltes Wasser tauchen und mir bringen.

Elie versuche ich, so gut es geht zu beruhigen. Als erstes bitte ich ihn, mir genau zu sagen, wie spät es auf der großen Küchenuhr, die man vom Flur aus sieht, gerade ist. Die Uhrzeit ist mir egal – aber ich will, dass Elie nicht auf seinen gebrochenen Arm starrt. Das klappt sogar: Elie berichtet pflichtbewusst, dass es jetzt 17 Uhr 30 sei.

Mir fällt indessen ein, dass es eine stabile Seitenlage gibt. Richtig, das hatte man beim Erwerb des Führerscheins einstudiert … wie man aber einen Dinosaurier in eine solche Lage bringt – das hatten wir nicht erlernt. Mir gelingt es zwar, Elie auf die Seite zu legen, danach weiss ich jedoch nicht weiter.

„Anatol!“ zische ich wütend und hilflos. „Was tun wir jetzt? Wir können den Nottierarzt nicht anrufen, das gibt wieder Probleme!“

Anatol ist aus dem Nest geklettert und hat mir das nasse Tuch gebracht, mit dem ich Elies Stirn kühle. Ratlos kratzt Anatol sich am Kopf.

„Ich rufe die Zwerge an! Etwas besseres fällt mir leider nicht ein.“ In diesem Moment bemerke ich, dass Elie noch blasser wird und ihm Schweisstropfen auf der Stirn stehen. Reflexartig lege ich seine Beine höher, dann hole ich den Verbandskasten, entfalte die Rettungsdecke und lege sie über Elie.

Anatol hat nun den Notdienst der Zwergen-Tierklinik erreicht. Der mittlere Zwerg erklärt uns ruhig, was zu tun ist. Elie dürfe weder überhitzen noch auskühlen, die Temperatur sei also zu überwachen. Der Arm bzw. die Vorderpfote solle nur leicht entlastet werden, am besten durch eine Armschlaufe mit einem Dreieckstuch. Sobald das geschehen sei, sollten wir so schnell als möglich in der Klinik vorstellig werden. Man werde dort nun alles für Elie vorbereiten.

Für die Anfahrt gibt uns der mittlere Zwerg noch den Hinweis, diesmal nicht von der „Langen Nacht“ aus zur Klinik zu kommen, sondern direkt über den Eberbach. Dieser Weg sei etwas beschwerlicher, aber kürzer. Er werde uns den Luchs zum Eberbach schicken, da das Wildschwein urlaubsbedingt zur Zeit nicht für Krankentransporte zur Verfügung stehe.

Nach dieser Mitteilung im perfekten Bürokratendeutsch legt der Zwerg auf. Ich vermute, dass der administrativ-hoheitliche Stil gewählt wurde, um jede Widerrede gegen den Einsatz des Luchses im Keim zu ersticken.

Der Luchs bereitet nämlich sowohl Anatol und Elie als auch mir eine regelrechte Höllenangst. Woher sollen wir wissen, ob er heute Abend nicht doch hungrig ist?

Mit einem mulmigen Gefühl machen wir uns mit dem Victoria-Fahrrad auf den Weg. Elie liegt angeschnallt auf einem Kissen in stabiler Seitenlage im Fahrradkorb, Anatol sitzt in meinem Rucksack – frech hält er den Kopf über meine Schulter herausgestreckt und tönt laut, er habe „die gesamte Lage im Griff“.

Ich kann mir ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen. Wenn Anatol seinen Schal nicht so nachlässig hätte herumhängen lassen, wäre der Unfall nicht passiert. Aber wenn das Wörtchen wenn nicht wär‘ … Unfälle passieren leider.

Ich trete in die Pedale, wie ich nur kann – bald erreichen wir die Schillerwiesen und dann den Hainberg. An der Ecke Hainholzweg-Calsowstraße biegen wir in letztere ein und fahren an den Tennisplätzen vorbei bis zum Reinkeweg. Diesen fahren wir bis zum Eberbach, dem wir links folgen. Bald wird der Weg beschwerlicher. Wurzeln und Unterholz überwuchern den Pfad, der kurze Zeit später ganz unter dem Dickicht verschwindet. Rechts erahnen wir nur die tiefe Schlucht, die der Eberbach hier bildet, aber das Unterholz ist so dicht, dass man sie kaum erkennen kann.

Ich entschließe mich, das Fahrrad an dieser Stelle zurückzulassen und Elie im Korb bis zur Klinik tragen. Von Zeit zu Zeit treffen wir auf kleinere Steinanhäufungen – ein geheimes Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg zur Tierklinik sind, weiss Anatol zu berichten.

Die Steine bleiben jedoch nun aus. Entweder haben die Zwerge hier keine Wegweiser mehr angebracht  – oder aber wir sind auf Abwege geraten. Schwitzend bleibe ich stehen und sehe mich um. So weit das Auge reicht, sehe ich grünen Wald um mich herum. Es gibt keinen Pfad und keinen Wegweiser. Wir haben uns verlaufen.

Ein Rascheln dringt aus dem Dickicht zu uns, dann ein leises Fauchen. Das Herz rutscht mir in die Hose. Dass es bitte nicht der schauerliche, furchterregende Luchs sein möge! Anatol verschwindet eilig in den Tiefen meines Rucksacks und zerrt von innen den Reissverschluss zu.

Indessen schleicht geschmeidigen Schritts der Luchs  aus dem dichten Unterholz hervor.

Artig setzt er sich vor uns hin. Sicher fällt ihm auf, dass nicht nur ich, sondern auch mein Rucksack vor Angst schlottern. Einzig Elie in seinem Korb zittert nicht, da er den Luchs noch nicht gesehen hat.

„Guten Abend“ sagt der Luchs höflich. Seine Pinselohren sind aufmerksam nach oben gerichtet – bei Katzen (und, so hoffe ich, auch beim Luchs) ein Zeichen von freundlicher Aufmerksamkeit. Ich bemerke jedoch, dass die Schwanzspitze des Luchses ein winziges bisschen hin- und herzuckt. Dies zeigt, dass nicht nur wir, sondern auch der Luchs etwas aufgeregt ist.

„Bitte folgt mir möglichst zügig“ weist uns die riesige Katze an. „Der mittlere Zwerg sagte, es sei Eile geboten. Der kleine Dinosaurier muss schnellstens behandelt werden. Ich zeige Euch deshalb eine Abkürzung.“

Der Luchs scheint ehrlich besorgt um Elies Wohl. Dies erfüllt mich mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Ich sage dem Luchs, wie hoch ich es ihm anrechne, dass er sich so hilfsbereit und freundlich uns gegenüber verhalte.

Der Luchs schüttelt den Kopf. „Das ist doch ganz selbstverständlich.“

Hier meldet sich mein Rucksack zu Wort. Aus seinem vermeintlich sicheren Versteck heraus kräht Anatol frech „Sag bloß, Du würdest uns nicht am liebsten fressen!“

Wie vom Schlag getroffen bleibe ich stehen. Ich versetze dem Rucksack einen festen Knuff und zische: „Ruhe da drinnen!“ Dann stammele ich eine Entschuldigung – und stelle mich auf einen Angriff des Luchses ein. Wäre es denkbar, auf eine der umstehenden Buchen zu klettern? Aber wie – mitsamt dem Fahrradkorb, in dem Elie liegt?

Allen bösen Erwartungen zum Trotz geschieht nun etwas ganz Erstaunliches. Der Luchs seufzt wie aus Überdruß und schüttelt den Kopf.

„Nein, ich will Euch nicht fressen. Erstens, weil ich gar keinen Hunger habe. Vorhin habe ich nämlich ein riesiges Abendessen von den Zwergen bekommen. Aber auch, wenn ich hungrig wäre, wollte ich Euch nicht fressen.“

Ich bin perplex. Sprachlos stehe ich da und höre dem Luchs weiter zu.

„Der kleine Dino da im Korb, der wäre ganz ungenießbar. Diese Tiere sind für einen Luchs keine Beute. Ich vermute, dass das für das freche Exemplar im Rucksack auch zutrifft.“

Ich fühle förmlich, wie Anatol gerade puterrot wird.

„Tja, und Menschen, wie Dich …“ – der Luchs sieht nun mich an – „… also die fresse ich auch nicht. Wisst Ihr eigentlich, wie schwer – ja geradezu unmöglich – es ist, Bio-Mensch zu finden? Heutzutage gibt es das nicht mehr. Menschen sind voller Antibiotika und anderer Medikamente, oft mit Hormonen gespritzt. Und wenn es ganz schlimm kommt, sind auch noch Anabolika drin. Wenn ich so etwas fressen würde, könnte ich gleich die Klinik-Apotheke leerfuttern.“

Bekümmert sieht der Luchs zu Boden. „Ich will mich ja nicht vergiften. Ihr könnt ganz sicher sein, dass ich Euch schon aus diesem Grund nichts tun werde.“

Ich wage es nicht, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Zitternd vor Angst stehe ich vor dem Luchs, meinen rosa Rucksack auf dem Rücken und den Fahrradkorb in der Hand … ich bin noch nie in einer solchen Situation gewesen und weiss nicht, wie ich mich nun verhalten soll.

Der Luchs seufzt und fährt fort „Ja, und dann ist da noch das Misstrauen der Anderen. Niemand möchte etwas mit mir zu tun haben. Alle haben Angst vor mir – sogar das Wildschwein. Dabei kann sogar ein gesunder, starker Luchs es kaum mit einem Wildschwein aufnehmen. Und dann ich erst … Und damit die Tiere und Menschen hier keine Angst mehr vor mir haben, versuche ich nicht einmal mehr, zu jagen. “

Betrübt sieht der Luchs an sich herunter. Nun fällt es mir wieder ein: der Luchs war in eine Falle geraten und hatte sich die Pfote so verletzt, dass ein dauerhafter Schaden geblieben war, den auch die Zwerge nicht hatten beheben können.

„Ich kann mich zwar immer noch anschleichen, aber nicht mehr springen. Wann ich meine letzte Beute erlegt habe, weiss ich nicht einmal mehr. Ich werde von den Zwergen gefüttert – sonst wäre ich wohl längst verhungert. Trotzdem möchte niemand mein Freund sein. Wie einsam mein Leben oft ist, könnt Ihr Euch nicht vorstellen.“

Entschlossen dreht sich der Luchs um und läuft weiter. Er humpelt tatsächlich ein wenig. „Wir sind fast da“ kündigt er uns an. Offenbar möchte er jetzt nicht weiter mit uns sprechen.

Aus seinem Transportkorb heraus ruft Elie laut „Luchs, das stimmt nicht, was Du eben gesagt hast. Ich möchte gern Dein Freund sein! Wenn ich Dich besser kennen würde, hätte ich bestimmt keine Angst mehr vor Dir.“

Der Luchs dreht sich um. Ungläubig sieht er uns an. Aus meinem Rucksack heraus tönt es, etwas erstickt: „Ich auch! Luchs, ich glaube ich könnte mich auch an Dich gewöhnen.“

Ich nicke dem Luchs zu. „Das gilt auch für mich.“

Der Luchs flüstert leise „Ich danke Euch“, dann läuft er weiter. Kurze Zeit später stehen wir vor der Klinik, wo Elie sofort vom kleinen und mittleren Zwerg in Empfang genommen wird.

Die Krähe als Ober-Krankenpfleger erklärt uns, dass Elie nun in Narkose gelegt und gleich operiert werde. Ein Krankenzimmer, in dem wir für die kommende Nacht auch untergebracht wären, sei schon für Elie hergerichtet.

Erleichtert, dass Elie nun in guten Händen ist, setzen wir uns auf die Bank im Wartezimmer. Der schöne Wartegarten fällt uns ein – heute muss man darin einen sehr angenehmen Tag verlebt haben, da es, obwohl November, wunderbar warm und sonnig gewesen war. Nun ist es allerdings schon Nacht.

Anatol quengelt leise „Ich hab Hunger!“ – und auch mir knurrt der Magen. Seit der große Zwerg in Rente gegangen ist – er steht der Klinik nur noch als medizinischer Berater bei sehr schwierigen Fällen zur Verfügung – hat er gleich neben dem Klinikgebäude ein Restaurant eröffnet. Dies sei seit langem sein Traum gewesen: eine kleine aber feine Gastwirtschaft, in der er selbst der Koch sei.

Wir entschließen uns, beim großen Zwerg in der HainbergschänkeVilla Vera“ einzukehren. Unser Wirt serviert Anatol und mir je ein riesiges alkoholfreies Bier, dann verschwindet er in der Küche, um dort wunschgemäß Spiegeleier mit Bratkartoffeln für uns zuzubereiten. Ausnahmsweise essen wir heute nur vegetarisch, nicht vegan – der heutige Tag war außergewöhnlich genug, um eine solche Abweichung von unseren Gewohnheiten zuzulassen.

Anatol lässt die Geschichte des Luchses keine Ruhe. „Wie traurig das klingt, was er uns erzählt hat! Ob wir ihm helfen können? Wo ist er eigentlich geblieben?“

Ich erkläre Anatol, dass ein Luchs keine Schmusekatze ist wie unsere kleinen Freunde, die Katzen. Der Luchs ist ein wildes Tier – ein Raubtier – das sich Menschen normalerweise gar nicht zeigt. Deshalb habe sich der Luchs vermutlich zurückgezogen, als wir an der Klinik angekommen seien.

Über das ganze Gesicht strahlend bringt uns der große Zwerg unser Abendessen. Zu Bratkartoffeln und Spiegelei serviert er frisches Gersterbrot, selbstgeschleuderte Butter und einen großen Salat.

Schmatzend vor Genuß fragt Anatol „Können wir nicht öfter hier einkehren? Es schmeckt köstlich!“ Der große Zwerg ist in der Tat ein begnadeter Koch – er erzählt uns, dass alle Zutaten aus eigener Herstellung stammen. Nur so könne er sicher sein, dass alles seinen hohen Qualitätsanforderungen entspreche.

Ich bringe nun das Gespräch auf den Luchs.

Der große Zwerg seufzt. „Unser Luchs. Ja, er ist ein echter Problemluchs. Hier im Hainberg kann er – selbst wenn er jagen könnte – im Grunde nicht überleben. Der Wald ist nicht groß genug für ein solches Raubtier, und Menschen sind auch fast überall anzutreffen. Da er behindert ist und gar nicht auf Jagd gehen kann, füttern wir ihn hier. Er hat seinen Unterschlupf hinter dem Restaurant am Schuppen. Wir dachten, er würde sich hier gut einleben. In gewisser Weise hat er das auch – aber die anderen Tiere begegnen ihm mit Misstrauen. In letzter Zeit wirkt er sehr unglücklich – das ist mir auch aufgefallen.“

Anatol will dem Luchs heute Abend unbedingt noch gute Nacht sagen – ob das eine gute Idee ist, weiss ich nicht.

Nach dem Essen gehen wir daher, nicht ohne ein flaues Gefühl in der Magengrube, zum Schuppen hinter der Hainbergschänke.

„Lu-huchs…“ flüstert Anatol. „Bist Du da…?“ Ich packe Anatol am Schlafittchen und gebe zu bedenken, dass der Luchs sicher schon schlafe und in Ruhe gelassen werde wolle.

Eine rauhe Stimme ertönt. Es ist der Luchs. „Es ist nett, dass Ihr vorbeikommt. Nein, ich schlafe nicht. Normalerweise würde ich jetzt draußen im Wald jagen. Wir Luchse sind nachtaktive Tiere. Aber das ist für mich vorbei. Sagt, wie geht es dem kleinen Dinosaurier?“

Wir berichten, dass Elie operiert wurde und dass wir nun in die Klinik zurück wollen, um dort hoffentlich zu erfahren, wie alles verlaufen sei. Vielleicht sei Elie sogar schon im Krankenzimmer beim Aufwachen?

„Geht schnell zu Eurem kleinen Freund“ sagt der Luchs. „Freunde und Familie, das ist das Wichtigste im Leben.“

Wir versprechen dem Luchs, am nächsten Tag noch einmal bei ihm vorbeizusehen. Dann gehen wir.

Als wir wieder am Restaurant des großen Zwergs angelangt sind, hören wir den Luchs uns nachrufen: „Ich bin Pelle. Pelle, der Luchs.“

Wir drehen uns um und winken dem Luchs zu. „Schlaf gut, Pelle“ flüstert Anatol mit Tränen in den Augen.

Als wir Elie noch immer fest schlafend und mit einem riesigen Gipsarm im Krankenzimmer liegen sehen, sieht Anatol mich an. „Wir müssen etwas für Pelle tun. Und ich glaube, ich habe eine Idee.“ Dann legt er sich neben Elie ins Krankenbett, zieht das Tablet, das der Spitzbube doch tatsächlich mitgenommen hatte, hervor und vertieft sich eine Lektüre, die er mir nicht zeigen will.

Ich schlüpfe unter die Decke des improvisierten Feldbetts, das die Zwerge mir hingestellt haben und schlafe sofort ein.

Am nächsten Morgen bin ich noch vor Sonnenaufgang wach. Elie wimmert leise in seinem Bettchen. „Mein Arm tut so weh“ weint er.

Ich drücke den Notknopf, der neben Elie auf dem Bett liegt – und kurze Zeit später betritt das Kaninchen das Zimmer. „Wie geht es uns denn heute?“ fragt es beflissen.

Uns geht es überhaupt nicht!“ zetert Elie. „Aber mir, mir geht es absolut gräßlich!“

Das Kaninchen versteht. Es nickt. „Ich bringe Dir etwas gegen die Schmerzen.“ Es verlässt das Zimmer und kommt fast augenblicklich mit einem kleinen Becher, in dem eine rosa Pille liegt, sowie einer Kanne zurück. Die Kanne entpuppt sich als Behältnis von Hagebuttentee. Ich erschauere.

Anatol flüstert „Das müssen wir doch nicht trinken, oder?“ Das Kaninchen hat mit seinen großen Ohren alles gehört. „Doch, das müsst Ihr“ sagt es trocken. „Das gehört zur Klinikverpflegung dazu. Seid froh, dass ich Euch nicht den Kaffee gebracht habe!“

Elie schluckt nun brav seine Tablette. Appetit hat er gar keinen.

Aus Solidarität trinken Anatol und ich eine Tasse Hagebuttentee mit. Ich schüttle mich. Insgeheim nehme ich mir vor, später ein richtiges Frühstück beim großen Zwerg zu ordern. Ich sehe Anatol an, dass er meinen Gedanken erraten hat.

Kurze Zeit später stehen Anatol und ich vor der Hainbergschänke und bestellen ein Frühstück mit Croissants, Brötchen – und echtem Tee.

Der große Zwerg schmunzelt „Ihr habt meine selbstgekochte Marmelade noch nicht probiert, nicht? Die bringe ich Euch gleich.“

Ein Anflug von Misstrauen bringt mich auf den Verdacht, die Klinikverpflegung sei möglicherweise absichtlich so ungenießbar – damit der große Zwerg seine Speisen noch besser an den Patienten bringen könne. Als ich indessen den herrlich gedeckten Frühstückstisch sehe, verfliegt jeder Argwohn. Anatol sitzt bereits mitten auf dem Tisch und löffelt Marmelade und Honig.

„Ich glaube, hier ist das Schlaraffenland“ ruft er fröhlich.

zur Fortsetzung!

ZOTTI BRAUCHT HILFE

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I. WAS HAT ZOTTI ?

Verzagt, aber doch mit Nachdruck zupfen mir die Butler am Hosenbein.

Es ist 9 Uhr morgens, ich komme eben – allein – vom Markt zurück, da Anatol vorhin nicht aus dem Haus wollte.

„Geh doch heute mal ohne mich – ich kann grad nicht!“ hatte er mir noch zugerufen, und war dann wieder in sein Zimmer verschwunden. Mich hatte das gewundert, denn normalerweise lässt Anatol es sich nicht nehmen, höchstpersönlich jedes Gemüse und Obst auf dem Markt genauestens zu begutachten und dann nur das Beste auszusuchen und zu erstehen.

Nun scheint es in der Tat ein Problem zu geben, welches vermutlich auch erklärt, warum Anatol heute früh nicht wegwollte. Ich mache mich auf eine mittlere Katastrophe gefasst und frage ungeduldig „Was ist denn nun schon wieder los? Kann denn nicht wenigstens während meiner Ferien mal ein Tag ohne Ärgernisse vergehen? Was habt Ihr angestellt !?“

Elie bricht in Tränen aus. Anatol räuspert sich. „Wir wollten Dir keine Sorgen bereiten. Deshalb haben wir bisher versucht, die Sache selbst in den Griff zu bekommen. Aber nun müssen wir doch was sagen. Also … Zotti ist krank. Ich glaub, es ist ganz schlimm.“ Anatols Stimme versagt. Er schluchzt.

Ich erbleiche. Wie kann Zotti denn krank sein? Was war passiert?

Zunächst einmal: wer ist Zotti? Zotti ist mein Teddybär. Er wurde mir von Omi geschenkt, als ich erst wenige Tage alt war. Mit anderen Worten: Zotti ist genau so alt wie ich. Für einen Teddybären ist das ein sehr hohes Alter. Zotti ist ein Steiff-Tier und heisst ursprünglich „Floppy Zotty“.

Entsetzt frage ich, wo Zotti sich befindet – bisher schlief er eigentlich meist ganz friedlich in der Wäscheschublade. Die Butler bringen mich an Zottis Krankenbett:

IMG_3282Hier fällt mir auf, dass Zotti sehr viel Fell verloren hat und müde aussieht. Vor allem jedoch ist Zotti nicht ansprechbar. Er erkennt weder mich noch die Saurier.

Elie versucht, unter Schluchzen Zottis Krankengeschichte darzulegen. „Zuerst war uns aufgefallen, dass Zotti so tüddelig geworden war. Oft wusste er gar nicht mehr, wer wir sind. Dann wollte er nicht mehr spielen und hat sich zurückgezogen. Wir dachten, er ist eben alt und da ist das normal … Aber dann war er so teilnahmslos und wacklig auf den Beinen. Seit heute antwortet er gar nicht mehr. Ich hab so Angst, dass wir alles nur noch schlimmer gemacht haben, weil wir ihn immer wieder geweckt haben!“

Ich beruhige Elie. „Ihr habt ganz bestimmt nichts schlimmer gemacht. Aber Ihr hättet mir früher Bescheid sagen sollen, das wäre besser gewesen. Anatol, bitte ruf sofort die Tierklinik im Hainberg an. Wir brauchen dringend ärztlichen Rat.“

Anatol wählt die Nummer der Tierklinik. Die Leitung ist frei, aber es geht niemand ans Telephon. Anatol lässt es klingeln, bis die Leitung abbricht. Ratlos sieht er mich an.

Siedend heiss fällt mir ein, dass ich erst kürzlich von einem Ärztestreik in der Zeitung gelesen hatte. War es möglich? Die Tierklinik im Streik?

Elie kramt hastig in seiner Schildkrötentasche. „Mina!“ ruft er. „Mina – das Wildschwein hatte uns doch seine Privatnummer gegeben! Falls wir nochmal einen Notfall haben und von ihm in die Klinik transportiert werden wollen! Wo ist diese Nummer hin!?“

Mina, die Ruhe selbst, teilt uns mit, dass sie die Nummer in ihr kleines schwarzes Medizinbuch eingetragen habe. „Und wo ist Dein kleines schwarzes Medizinbuch? Bring mir dieses Medizinbuch her, aber schnell!“ faucht Anatol.

Mina öffnet eine Schublade, wühlt darin herum und findet ein winziges schwarzes Notizbuch, aus dem sie uns die Nummer des Wildschweins vorliest: 42671. Anatol gibt die Nummer in sein Handy ein.

Tatsächlich geht das Wildschwein kurze Zeit später ans Telephon. „Huhu!“ grunzt es in den Hörer. „Wer ist denn da?“

Anatol erklärt in Windeseile die Situation. „Ja streikt Ihr denn in der Klinik? Was machen wir nun!?“ will er vom Wildschwein wissen.

„Nein, natürlich streiken wir nicht. Nur die Ameise ist im Streik – sie macht ja sonst den Telephondienst. Als sie von dem bundesweiten Ärztestreik gehört hat, hat sie sofort den Hörer niedergelegt. Sie fordert ihren Hustensaft ein, obwohl sie schon lange keinen Husten mehr hat. Irgendetwas ist in diesem Hustensaft drin, was sie unglaublich lecker findet. Ich sag immer, sie wird davon ganz high. Deshalb hat der mittlere Zwerg ihr den Saft sicher auch weggenommen. Nun ist sie im Streik, und wir haben keine Telephonzentrale mehr. Unsere Telephonaushilfe, das Kaninchen, kommt erst morgen.“

„Können wir denn trotz allem mit Zotti kommen?“ fragt Anatol atemlos.

„Ja, das könnt Ihr. Aber ich kann Euch nicht abholen – ich liege auf der Intensiv.  Wieder mal zuviele Spuckpilze…“ fügt das Wildschwein reumütig hinzu.

Ich beginne, mir Gedanken über die Tierklinik zu machen. Eine Ameise auf Drogen an der Telephonzentrale und nun im Arbeitskampf, das als Krankenwagen fungierende Wildschwein nach Spuckpilz-Exzessen auf der Intensivstation … all dies macht keinen guten Eindruck. Ich werde wohl ein ernstes Wort mit dem großen Zwerg, dem Klinikchef, reden müssen.

Zunächst müssen wir indessen in die Klinik kommen: ohne das Wildschwein ein schwieriges Unterfangen! Keine Straße führt dorthin, mit einem Taxi ist die Klinik nicht zu erreichen. Der Drachenflugdienst fliegt die Klinik nicht an. Sogar mit dem Fahrrad waren wir nur bis zu einem bestimmten Punkt gekommen – dann war das Unterholz des Waldes zu dicht geworden, als dass wir hätten weiterfahren können. Glücklicherweise hatten wir das Wildschwein getroffen, welches uns bis in die Klinik gebracht hatte.

Fieberhaft suche ich nach einer Lösung. Noch bevor ich eine Idee habe, meint Elie „Wir könnten Angelos Heißluftballon nehmen!“

Ich sehe Elie verblüfft an. „Angelo hat einen Heißluftballon?“ frage ich. „Ja, seit kurzem.“ sagt Elie. „Angelos Eltern wollten ihm eigentlich eine ferngesteuerte Drohne schenken. Aber das fand er so spießig – so was hätte ja schon jeder. Deshalb haben sie ihm einen Heißluftballon geschenkt. Sogar Strolchi, Angelos Dackel, haben wir damit schon fliegen lassen! Anna hat dafür eine ganz neuartige Fernsteuerung mit einem Laser konstruiert. Sie kann sowas richtig gut!“

Ich bin baff. Dieser Ballon könnte uns tatsächlich helfen, Zotti in die Tierklinik zu bringen! Nun müsste Angelo allerdings auch bereit sein, uns den Ballon für Zotti auszuleihen.

Da Elie gute Beziehungen zu Angelos Eltern und zudem noch etwas bei Angelo gut hat, bekommen wir den Ballon. Es handelt sich um einen Miniaturheißluftballon mit einem winzigen Körbchen, in das Zotti zwar hineinpasst, aber sonst niemand mehr.

Hier werde ich unterbrochen. „Doch! Ich passe dort noch hinein!“ ruft Mina. „Ich kann kann mit Zotti in dem Ballon zur Klinik fliegen. So muss er nicht allein sein, und ich kann auch den Ärzten alles erklären, wenn wir ankommen. Ihr könnt ja zu Fuß durch den Wald nachkommen.“

II. ZOTTI IM HEISSLUFTBALLON

Nun ist Eile geboten. Zotti ist weiterhin nicht ansprechbar und sieht blass aus. Anatol feilscht mit Angelo um den Heißluftballon – endlich gelingt es ihm, Angelo zu überzeugen, ihm das Luftfahrzeug zu überlassen. „Ich will meinen Ballon unversehrt zurück!“ jammert Angelo. „Ja, aber natürlich“ beruhigt Anatol ihn. „Wir bringen Dir Deinen Ballon zurück, sobald Zotti aus der Klinik kommt. Ganz sicher!“

„Sicher“ ist indessen nicht einmal, dass Zotti wohlbehalten in der Klinik ankommt. Anatol zieht es vor, dies Angelo vorerst nicht mitzuteilen.

IMG_3287Mina macht sich nun mit der von Anna konstruierten Lasersteuerung des Ballons vertraut. Zotti ist bereits in die Dinodecke eingewickelt und döst im Korb, der demnächst unter den Heißluftballon geschnallt wird.

Ich habe ein sehr mulmiges Gefühl bei der Sache.

Mina vermeldet, sie komme mittlerweile einigermaßen mit der Steuerung klar. Sie wolle jetzt gern losfliegen, damit Zotti so schnell wie möglich in der Klinik ankomme.

Angelo befestigt die Riemen, die den Korb mit dem Ballon verbinden, mit Klammern an den vier Ecken des Korbs. Nun wird der Korb auf den Balkon gestellt und der Gasbrenner gezündet.

Ich schlucke. Ob dieses Vehikel überhaupt für den Transport von lebenden Stofftieren geeignet ist? Der Gedanke kommt mir zu spät: schon schwebt der Heißluftballon vom Balkon über die Straße, erhebt sich über die Dächer der Häuser auf der anderen Straßenseite, steigt und höher und höher in den Himmel, bis er nur noch ein schwarzes Pünktchen am Horizont ist. Anatol, Elie und Angelo starren dem Ballon ungläubig hinterher.

„So lang und so hoch ist der noch nie geflogen!“ stammelt Angelo. Mir wird schwarz vor den Augen.

„Weiss Mina überhaupt, wo die Klinik liegt und wo sie hinfliegen muss?“ rufe ich entsetzt.

„Ja, klar“ sagt Elie. „Ich habe ihr gesagt, sie muss immer geradeaus fliegen, und ganz am Schluß rechts rüber. So sind wir ja damals auch zur Klinik gekommen.“

Anatol guckt Elie fassungslos an. „Wie soll sie denn mit so einer Wegbeschreibung auch nur irgendwo ankommen, Elie?“

Das Telephon klingelt. Es ist Mina, die umsichtigerweise ihr Funkgerät mitgenommen hat. Im perfekten Pilotenstil vermeldet sie: „Wir haben nun unsere maximale Flughöhe erreicht. Turbulenzen erfahren wir kaum. Der Ballon fliegt zügig und wir werden unser Ziel, den Hainberg, in Kürze erreichen. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir die genauen Koordinaten der Klinik übermitteln würdet, d.h. Längen- und Breitengrad. Ich brauche diese Angaben, um mit Hilfe von Annas Steuerungsgerät unsere Punktlandung vorzubereiten.“

Wir sind perplex ob dieser Professionalität unserer Mina. Sie hat die Situation sichtlich voll im Griff, während wir – Anatol, Elie, Angelo und ich – zitternd vor Aufregung noch auf dem Balkon stehen.

Längen- und Breitengrad der Klinik erfahren wir vom Wildschwein, das glücklicherweise telephonisch zur Verfügung steht. Nachdem die Koordinaten an Mina übersandt sind, müssen wir uns schnellstens auf den Weg machen – denn wir wollen ja in der Klinik sein, wenn Zotti dort behandelt wird.

III. IM HAINBERG

Wir bringen Angelo nach Hause, nicht ohne uns gebührend für den Ballon bedankt zu haben, ohne den wir Zotti nicht in die Klinik hätten bringen können.

Dann setze ich mich aufs Fahrrad und fahre so schnell ich nur kann in Richtung Hainberg. Anatol und Elie sitzen im Rucksack – sie ängstigen sich ein wenig vor dem dichten Wald. Deshalb wollen sie sicherheitshalber nicht zu genau sehen, wo wir entlangfahren.

Wie bei unserer letzten Reise in die Tierklinik müssen wir auch diesmal das Fahrrad im Wald zurücklassen, als das Dickicht uns nicht weiterfahren lässt. Dann beginnt unser Fußmarsch durch das dichte Unterholz.

Schon nach kurzer Zeit haben wir die Orientierung verloren. Anatol schimpft: „Wir müssen da links entlang!“ Elie kontert: „Quatsch! Hier rechts rüber, dann ist es gleich dahinten.“ Ich hingegen meine, unser Weg müsse uns vielmehr geradeaus weiterführen, und versuche erfolglos, dies den Sauriern nahezubringen. Seufzend hole ich das Handy aus der Tasche, um ein weiteres Mal das Wildschwein anzurufen – und muss feststellen, dass im tiefen Wald kein Mobilfunknetz zur Verfügung steht.

Die Saurier zetern und streiten – ich verliere die Geduld. Wütend – und hilflos – herrsche ich die beiden Streithähne an, endlich Ruhe zu geben. Voller Schreck verstummen die Butler. Ich führe dies auf meinen Autoritätsanfall zurück, bis ich feststelle, dass beide Saurier schaudernd ins Unterholz starren. Dort zeichnen sich die Umrisse eines großen Tieres ab. Genau kann ich nur die spitzen Ohren erkennen, von denen regelrechte Pinsel abstehen.

Es gibt keinen Zweifel: aus dem Dickicht heraus beobachtet uns in unmittelbarer Nähe ein riesiger Luchs.

Der Schreck fährt mir in die Glieder. Ein Luchs ist ein Raubtier. Obwohl er zu den „Kleinkatzen“ gezählt wird, hat dieses Tier nichts mit meinen Schmusekatzen gemein. Schließlich ist der Luchs die größte Katze Europas.

Elie flüstert „Frisst der uns jetzt auf?“ Anatol kramt im Rucksack. „Haben wir nicht noch eine Dose Katzenfutter dabei, die das Tier gnädig stimmen könnte?“ zischelt er.

Ich wispere den Butlern zu, sich nicht zu bewegen. Vielleicht hat der Luchs uns bisher nicht als Beute angesehen, und geht nun einfach seiner Wege?

Dies ist indes nicht der Fall. Der Luchs bewegt sich einen Schritt auf uns zu – ich erwäge, so schnell es nur geht auf den nächsten Baum zu klettern, da knurrt der Luchs „Ich weiss, wo Ihr hinwollt. Ihr sucht die Klinik. Vor mir braucht Ihr heute keine Angst zu haben. Die Zwerge haben mich letztens aus einer Falle gerettet, in die ich mit meiner Pfote geraten war. Da werde ich bestimmt niemanden auffressen, der zu ihnen will. Folgt mir einfach, dann zeige ich Euch den Weg.“

Zögernd und mit gebührendem Abstand bahnen wir uns einen Weg durch das Dickicht, immer dem Luchs hinterher. Wenn man genau hinsieht, merkt man, dass er ein wenig hinkt. Es muss eine Folge seiner Verletzung durch die Falle sein. Glücklicherweise scheint sie den Luchs bei seinen Streifzügen durch den Wald nicht zu stören.

Eine Stunde – oder war es doch länger? – später erreichen wir endlich die Lichtung, auf der die Tierklinik der Zwerge steht. Wir wollen uns bei dem hilfreichen Luchs bedanken – doch wo ist er? Eben noch war er vor uns und zeigte uns den Weg an … nun ist er lautlos im Wald verschwunden.

IV. IN DER KLINIK

Die letzten Meter zur Klinik laufen wir. Vor dem Eingang sehen wir Angelos Heißluftballon – der Korb ist verlassen und der Ballon liegt als leere Hülle auf dem Rasen.

Die Glastür öffnet sich und wir stehen an der unbesetzten Patientenaufnahme. Offenbar gehört auch dies zu den Aufgaben der streikenden Ameise. Ein Glöckchen steht bereit, ich klingele damit.

Eine Krähe hüpft aus dem Schwesternzimmer. Mit ihrem weissen Schwesternhäubchen auf dem Kopf sieht ihr scharfer Schnabel weniger gefährlich aus, was mich beruhigt.

„Guten Tag. Ich bin der Oberpfleger. Leider ist die Aufnahme heute streikbedingt nicht besetzt. Sie können aber alles weitere mit mir besprechen“ sagt die Krähe freundlich.

„Wir kommen wegen Zotti. Er muss vorhin mit dem Heißluftballon bei Ihnen angekommen sein.“

Die Krähe studiert ihre Unterlagen. „Ja, ich habe ihn hier. Zotti, sehr alter Teddybär … er ist auf der Intensivstation. Ich rufe den behandelnden Arzt, er wird Ihnen alles mitteilen.“

Entsetzt sehen wir uns an. Auf der Intensivstation? Das klingt sehr ernst. Elie beginnt, zu schluchzen. Anatol beisst die Zähne zusammen. Ich versuche, die Butler zu beruhigen. „Zotti ist hier in den besten Händen. Erinnert Euch: das Wildschwein ist auch auf der Intensivstation. Zotti ist in guter Gesellschaft. Sicher erzählen sich die beiden schon Witze!“

Was ich den Sauriern nicht erzähle, ist dies: die Magenpumpe steht auf der Intensivstation der Tierklinik, daher war das Wildschwein zunächst dort gewesen. Nachdem die giftigen Spuckpilze herausgepumpt waren (diese Prozedur muss das Wildschwein leider öfter über sich ergehen lassen), muss es auf die normale Krankenstation gebracht worden sein. Da es sich aber gern ein wenig wichtig tut, hatte es uns von der Intensivstation erzählt – um seine Krankengeschichte etwas dramatischer aussehen zu lassen. Zotti ist aber wohl wirklich wegen seines besorgniserregenden Zustands auf der Intensivstation.

Die Intensivstation ist im zweiten Stock der Klinik und kann nicht einfach so betreten werden. Wir warten vor einer verschlossenen Doppelschwingtür, durch die ab und zu Klinikpersonal mit Mundschutz und Handschuhen geht … eine bedrückende Atmosphäre. Der beim letzten Besuch so angenehme Wartegarten kann im Winter natürlich nicht aufgesucht werden. Es ist einfach zu kalt.

Nach endloser Wartezeit – die Butler sind längst eingeschlafen und schlummern im Rucksack – kommt der mittlere Zwerg durch die Schwingtür. Er lächelt freundlich, aber ich sehe, dass er doch ernste Nachrichten hat.

„Zotti ist leider immer noch in einem bedrohlichen Zustand. Wir konnten ihn mit Infusionen glücklicherweise stabilisieren. Manche Blutwerte laufen noch, aber wir können jetzt schon sehen, dass Zotti extreme Mangelerscheinungen hat. Wann haben Sie Zotti das letzte Mal gefüttert?“

Ich erbleiche. Vermutlich habe ich Zotti Mitte der Siebziger Jahre das letzte Mal etwas zu Fressen gegeben – Zotti mochte es damals, zum Frühstück etwas Marmeladentoast zu bekommen. Dies teile ich dem mittleren Zwerg schuldbewusst mit.

„Ihr Teddybär hat also seit etwa 40 Jahren nichts mehr gegessen. Da haben wir schon das Problem. Wir werden Zotti nun mit Infusionen und Astronautenkost ernähren, bis es ihm wieder besser geht. Danach verordnen wir normale Hausmannskost, gern auch wieder Marmeladentoast. In etwa einer Woche sollte Zotti wieder ganz der Alte sein.“

Eilig verabschiedet sich der mittlere Zwerg und bittet uns, morgen wieder anzurufen (die Zentrale sei dann besetzt). Für heute könne man nichts weiter tun, als Zotti ruhen zu lassen.

Wo ist Mina? Mina hat sich mit dem kleinen Zwerg angefreundet und erklärt ihm soeben die Steuerung des Heißluftballons. Wir verabreden, dass Mina mit dem Ballon in der Tierklinik bleibt, bis es Zotti besser geht.

Erleichtert machen wir uns auf den Rückweg, nachdem wir unserer Eskorte, dem Luchs, mit Hilfe des Klinikpersonals ein sehr üppiges Mahl serviert haben.

Die Saurier – und ich – finden es beruhigender, von einem satten Luchs durch den Wald geführt zu werden.

Zu Hause beschließen wir, dass Zotti in Zukunft mindestens einmal am Tag ein dick bestrichenes Marmeladentoastbrot bekommen wird.

MINA IN DER TIERKLINIK

Wie ich ja schon bei Elie und Anatol geschrieben habe, ist Mina, Elies kleine schwarz-weisse Stoffkuh, schwer krank.

Mina hatte plötzlich nichts mehr essen wollen und starke Bauchschmerzen bekommen. Es hatte ihr ihr sogar wehgetan, wenn Elie sie streichelte. Elie hatte ratlos an Minas Bettchen gesessen … Nachdem er Mina das 10. Glas Tee gebracht hatte, das unberührt kalt wurde, hatte Anatol kurzentschlossen die Nummer der Tierklinik der Zwerge gewählt – und der diensthabende kleine Zwerg hatte uns eindringlich nahegelegt, ohne zu Zögern mit Mina in die Klinik zu kommen. IMG_3002

Nach kurzem Beratschlagen waren wir übereingekommen, mit Anatols neuem Fahrrad in die Klinik zu fahren: die Drachenfluglinie streikte gerade und mit dem Auto kann man nicht in den Hainberg fahren. Das Trekkingrad schien das am besten geeignete Vehikel, um die Klinik schnell und auf dem kürzesten Weg zu erreichen.

Heute früh im Morgengrauen ist es soweit: Elie, Anatol und ich machen uns – Mina in der Krankentransporttasche – mit dem Fahrrad auf den Weg in Richtung Hainberg. Hier biegen wir in den Waldweg „Die lange Nacht“ ein und folgen ihm, bis es nicht mehr weitergeht. Ein kaum wahrnehmbarer Pfad führt mitten hinein in den Wald.

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Goettinger Landwehr 01“ von Jan Stubenitzky (Dehio) – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Anatol flüstert: „Hier ist es. Das ist der Geheimweg zur Tierklinik. Ich bin mir ganz sicher.“

Der Pfad ist so schmal und das Unterholz so dicht, dass wir vom Fahrrad absteigen müssen. Bald ist klar, dass das Rad nicht einmal mehr geschoben werden kann – wir müssen es zurücklassen und zu Fuss weitergehen. Anatol schließt sein neues Fahrrad voller Sorge an eine Buche, während ich ihn beruhige: in diesen Teil des Waldes verirrt sich schon ein normaler Mensch nicht – ein Fahrraddieb dann erst recht nicht.

Wir gehen weiter. Schon nach wenigen Metern hat der Wald das Rad verschlungen – wir können weder den hellblauen Rahmen mehr sehen noch die gelben Reflektoren. Anatol schluckt.

Mina beginnt wieder, sich in ihrem Transportschlafsack zu winden und zu stöhnen. Elie schluchzt laut auf: „Wir kommen zu spät! Es geht Mina so schlecht – ich habe Angst, dass sie es nicht schafft! Du musst schneller laufen!“

Gerade will ich den beiden Butlern erklären, dass ich einfach nicht schneller laufen kann, da der Weg voller Wurzeln und sich windendem Unterholz ist – da knackt und kracht es laut neben uns in den Büschen. Ich erschrecke – was ist das für ein Geräusch?

Die Umrisse einer riesigen Gestalt lösen sich aus dem Gebüsch. „Anatol, wo ist mein Taschenmesser?“ zischele ich dem Saurier zu. Dieser ist allerdings tief in meinen Rucksack abgetaucht – voller Angst vor dem Ungeheuer, welches aus dem Wald auf uns zukommt!

Völlig unbewaffnet und dementsprechend wehrlos stehe ich vor dem Ungetüm – einen kleinen rosa Rucksack auf dem Rücken, in dem die zitternden Butler und die kranke Mina sich aneinanderkrallen. Ich balle die Fäuste – zumindest will ich mich nicht kampflos ergeben.

Das lärmende Untier ist ein gigantisches Wildschwein. Freundlich brummt es: „Der kleine Zwerg schickt mich. Ich soll Euch und die kleine Patientin hier abholen. Wir dachten uns schon, dass Ihr allein nicht weiterkommt hier im Dickicht. Steigt mal auf, ich bringe Euch zur Klinik.“

Ich bin so entgeistert, dass ich mich nicht einmal frage, wie man wohl auf einem Wildschwein reiten könne – und einen Moment später sitze ich bereits auf dem Rücken des Keilers, der nun im Schweinsgalopp durch den Wald jagt.

Eine Viertelstunde später treffen wir in der Klinik ein, wo das Wildschwein uns recht formlos an der Notaufnahme ablädt.

Mina atmet noch, aber es geht ihr sehr schlecht. Ein Zwerg schießt aus der Tür heraus, eine fahrbare Krankentrage hinter sich herziehend. Wir betten Mina darauf, und schon ist der Zwerg mit ihr in der Klinik verschwunden – in der Intensivstation.

Elie bricht in Tränen aus. Wir haben es geschafft, Mina bis in den Hainberg zu bringen, die ganze Lange Nacht entlang, durchs Unterholz und dann mit dem Wildschwein-Krankentransporter bis zur Klinik … nun können wir nichts weiter tun als warten und hoffen, dass das ärztliche Geschick der Zwergenmediziner Mina wird retten können.

Ein etwas größerer Zwerg im weissen Arztkittel kommt durch den Hof auf uns zu. „Sie müssen die Familie von Mina sein, nicht wahr?“ Wir nicken.

„Mina wird jetzt von unserem Intensivmedizinerteam behandelt. Es wird alles für sie getan, was in unserer Macht steht. Wir wissen allerdings noch nicht, was Mina fehlt. Bevor wir sie genauer untersuchen können, müssen wir Mina zunächst stabilisieren. Ich werde Sie über jeden Fortschritt auf dem Laufenden halten.“

Der Zwerg – wir vermuten, dass es sich um den mittleren Zwerg handelt – führt uns den Wartegarten: Blumenbeete sowie Kräuter- und Gemüsekästen sind dort sehr hübsch angelegt. Gartentische und -stühle und eine bequeme Liege stehen ebenfalls für uns bereit. „Dieser Garten ist für die Angehörigen unserer Patienten. Sie können hier einfach ausruhen und lesen – aber wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie auch etwas gärtnern. So vergeht die Wartezeit schneller.“

Der Zwerg lässt mir einen Stoß Papiere zum Ausfüllen da (die Gesundheitsreform hat auch in der Tierklinik der Zwerge Einzug gehalten), Anatol und Elie bekommen Schäufelchen und eine Harke – so können sie sich an einem halbfertigen Gemüsebeet zu schaffen machen und müssen nicht alle zwei Minuten fragen, wie lang es denn noch dauern werde …

Der Vormittag vergeht … zu Mittag bekommen wir eine herrliche Blütensuppe mit Kapuzinerkresse – sehr zuvorkommend von der Ameise serviert. Das Wildschwein frisst nebenan in seiner Sandgrube Eicheln, die Elie mit ihm gesammelt hat. Leider erlauben die Tischmanieren des Wildschweins kein gemeinsames Mahl.

Es wird Abend … immer noch haben wir keine Nachrichten von Mina, außer der Tatsache, dass Mina operiert werden muss…

Wir frösteln: ein kühler Wind ist aufgezogen. Langsam müssen wir uns um eine Unterkunft kümmern: uns ist klar, dass Mina heute abend nicht entlassen wird – wenn sie überhaupt wieder gesund wird. Elie laufen Tränen aus den Augen.

Da – der mittlere Zwerg mit seinem eleganten weissen Anzug kommt durch die Glastür in den Garten. „Minas Operation ist gut verlaufen. Es wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen, bis es Mina wieder besser geht.“

Wir atmen etwas auf – diese Nachricht ist eindeutig positiv. „Was fehlte Mina denn?“ frage ich den mittleren Zwerg.

„Von Fehlen kann im Grunde keine Rede sein … Mina hatte im Gegenteil deutlich zu viele Sachen in ihrem Bauch, die dort nicht hingehören. Plastikfiguren, Flummis und mehrere Stoffmäuse … sind Sie sicher, dass Sie Mina ausreichend füttern?“

Das Blut weicht mir aus dem Gesicht. Was haben die Butler Mina zu essen gegeben? Scharf sehe ich Elie und Anatol an.

Anatol zuckt ratlos mit den Schultern. „Mina bekommt genau dasselbe zu essen, wie wir alle … ich kann mir das nicht erklären!“

Elie hingegen hat plötzlich einen hochroten Kopf. Auch habe ich das Gefühl, dass er gerade am liebsten im Erdboden versinken möchte. Was hat der Saurier zu verbergen? Ich packe ihn am Schlafittchen: „Elie, muss ich Dir erst die Ohren lang ziehen, bevor Du uns sagst, womit Du Mina fütterst?“

Elie jammert. Er habe Mina die Sachen nicht zu essen gegeben! Er wisse doch selbst, dass man so etwas nicht verschlucken darf. Er habe Mina nur erzählt, dass am nächsten Tag gutes Wetter werde, wenn man immer brav alles aufesse! Dabei habe er allerdings nicht die Flummis und Spielmäuse der Katzen gemeint … Mina müsse systematisch alles aufgefuttert haben, was auf dem Boden herumgelegen habe.

Da es tagelang geregnet hat, muss sie sehr motiviert gewesen sein.

Der mittlere Zwerg runzelt die Stirn. „Solche Fälle hatten wir bisher nur bei Katzen und Hunden, die am Pica-Syndrom litten. Bei Stoffkühen ist uns das neu. Leider war der operative Aufwand bei den 4 Mägen, die Mina hat, extrem hoch. Als Privatklinik müssen wir das mit dem dreifachen Satz abrechnen. Ich hoffe, Sie sind gut für Mina versichert.“

Mir wird schwarz vor den Augen. Selbstverständlich habe ich für Mina keine Versicherung. Elie wird nun eine ganze Weile kein Taschengeld bekommen – bis die Operation und der zweiwöchige Klinikaufenthalt, der auf die Operation folgen wird, abbezahlt sind.

Die Zwerge sind glücklicherweise kulant und bieten uns eine bequeme Ratenzahlung an. Dennoch wird die Klinikrechnung ein tiefes Loch in unsere Haushaltskasse reissen.

In unserem Hause wird nie wieder gutes Wetter vom Aufessen einer Mahlzeit abhängig gemacht werden.