ZOTTI BRAUCHT HILFE

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I. WAS HAT ZOTTI ?

Verzagt, aber doch mit Nachdruck zupfen mir die Butler am Hosenbein.

Es ist 9 Uhr morgens, ich komme eben – allein – vom Markt zurück, da Anatol vorhin nicht aus dem Haus wollte.

„Geh doch heute mal ohne mich – ich kann grad nicht!“ hatte er mir noch zugerufen, und war dann wieder in sein Zimmer verschwunden. Mich hatte das gewundert, denn normalerweise lässt Anatol es sich nicht nehmen, höchstpersönlich jedes Gemüse und Obst auf dem Markt genauestens zu begutachten und dann nur das Beste auszusuchen und zu erstehen.

Nun scheint es in der Tat ein Problem zu geben, welches vermutlich auch erklärt, warum Anatol heute früh nicht wegwollte. Ich mache mich auf eine mittlere Katastrophe gefasst und frage ungeduldig „Was ist denn nun schon wieder los? Kann denn nicht wenigstens während meiner Ferien mal ein Tag ohne Ärgernisse vergehen? Was habt Ihr angestellt !?“

Elie bricht in Tränen aus. Anatol räuspert sich. „Wir wollten Dir keine Sorgen bereiten. Deshalb haben wir bisher versucht, die Sache selbst in den Griff zu bekommen. Aber nun müssen wir doch was sagen. Also … Zotti ist krank. Ich glaub, es ist ganz schlimm.“ Anatols Stimme versagt. Er schluchzt.

Ich erbleiche. Wie kann Zotti denn krank sein? Was war passiert?

Zunächst einmal: wer ist Zotti? Zotti ist mein Teddybär. Er wurde mir von Omi geschenkt, als ich erst wenige Tage alt war. Mit anderen Worten: Zotti ist genau so alt wie ich. Für einen Teddybären ist das ein sehr hohes Alter. Zotti ist ein Steiff-Tier und heisst ursprünglich „Floppy Zotty“.

Entsetzt frage ich, wo Zotti sich befindet – bisher schlief er eigentlich meist ganz friedlich in der Wäscheschublade. Die Butler bringen mich an Zottis Krankenbett:

IMG_3282Hier fällt mir auf, dass Zotti sehr viel Fell verloren hat und müde aussieht. Vor allem jedoch ist Zotti nicht ansprechbar. Er erkennt weder mich noch die Saurier.

Elie versucht, unter Schluchzen Zottis Krankengeschichte darzulegen. „Zuerst war uns aufgefallen, dass Zotti so tüddelig geworden war. Oft wusste er gar nicht mehr, wer wir sind. Dann wollte er nicht mehr spielen und hat sich zurückgezogen. Wir dachten, er ist eben alt und da ist das normal … Aber dann war er so teilnahmslos und wacklig auf den Beinen. Seit heute antwortet er gar nicht mehr. Ich hab so Angst, dass wir alles nur noch schlimmer gemacht haben, weil wir ihn immer wieder geweckt haben!“

Ich beruhige Elie. „Ihr habt ganz bestimmt nichts schlimmer gemacht. Aber Ihr hättet mir früher Bescheid sagen sollen, das wäre besser gewesen. Anatol, bitte ruf sofort die Tierklinik im Hainberg an. Wir brauchen dringend ärztlichen Rat.“

Anatol wählt die Nummer der Tierklinik. Die Leitung ist frei, aber es geht niemand ans Telephon. Anatol lässt es klingeln, bis die Leitung abbricht. Ratlos sieht er mich an.

Siedend heiss fällt mir ein, dass ich erst kürzlich von einem Ärztestreik in der Zeitung gelesen hatte. War es möglich? Die Tierklinik im Streik?

Elie kramt hastig in seiner Schildkrötentasche. „Mina!“ ruft er. „Mina – das Wildschwein hatte uns doch seine Privatnummer gegeben! Falls wir nochmal einen Notfall haben und von ihm in die Klinik transportiert werden wollen! Wo ist diese Nummer hin!?“

Mina, die Ruhe selbst, teilt uns mit, dass sie die Nummer in ihr kleines schwarzes Medizinbuch eingetragen habe. „Und wo ist Dein kleines schwarzes Medizinbuch? Bring mir dieses Medizinbuch her, aber schnell!“ faucht Anatol.

Mina öffnet eine Schublade, wühlt darin herum und findet ein winziges schwarzes Notizbuch, aus dem sie uns die Nummer des Wildschweins vorliest: 42671. Anatol gibt die Nummer in sein Handy ein.

Tatsächlich geht das Wildschwein kurze Zeit später ans Telephon. „Huhu!“ grunzt es in den Hörer. „Wer ist denn da?“

Anatol erklärt in Windeseile die Situation. „Ja streikt Ihr denn in der Klinik? Was machen wir nun!?“ will er vom Wildschwein wissen.

„Nein, natürlich streiken wir nicht. Nur die Ameise ist im Streik – sie macht ja sonst den Telephondienst. Als sie von dem bundesweiten Ärztestreik gehört hat, hat sie sofort den Hörer niedergelegt. Sie fordert ihren Hustensaft ein, obwohl sie schon lange keinen Husten mehr hat. Irgendetwas ist in diesem Hustensaft drin, was sie unglaublich lecker findet. Ich sag immer, sie wird davon ganz high. Deshalb hat der mittlere Zwerg ihr den Saft sicher auch weggenommen. Nun ist sie im Streik, und wir haben keine Telephonzentrale mehr. Unsere Telephonaushilfe, das Kaninchen, kommt erst morgen.“

„Können wir denn trotz allem mit Zotti kommen?“ fragt Anatol atemlos.

„Ja, das könnt Ihr. Aber ich kann Euch nicht abholen – ich liege auf der Intensiv.  Wieder mal zuviele Spuckpilze…“ fügt das Wildschwein reumütig hinzu.

Ich beginne, mir Gedanken über die Tierklinik zu machen. Eine Ameise auf Drogen an der Telephonzentrale und nun im Arbeitskampf, das als Krankenwagen fungierende Wildschwein nach Spuckpilz-Exzessen auf der Intensivstation … all dies macht keinen guten Eindruck. Ich werde wohl ein ernstes Wort mit dem großen Zwerg, dem Klinikchef, reden müssen.

Zunächst müssen wir indessen in die Klinik kommen: ohne das Wildschwein ein schwieriges Unterfangen! Keine Straße führt dorthin, mit einem Taxi ist die Klinik nicht zu erreichen. Der Drachenflugdienst fliegt die Klinik nicht an. Sogar mit dem Fahrrad waren wir nur bis zu einem bestimmten Punkt gekommen – dann war das Unterholz des Waldes zu dicht geworden, als dass wir hätten weiterfahren können. Glücklicherweise hatten wir das Wildschwein getroffen, welches uns bis in die Klinik gebracht hatte.

Fieberhaft suche ich nach einer Lösung. Noch bevor ich eine Idee habe, meint Elie „Wir könnten Angelos Heißluftballon nehmen!“

Ich sehe Elie verblüfft an. „Angelo hat einen Heißluftballon?“ frage ich. „Ja, seit kurzem.“ sagt Elie. „Angelos Eltern wollten ihm eigentlich eine ferngesteuerte Drohne schenken. Aber das fand er so spießig – so was hätte ja schon jeder. Deshalb haben sie ihm einen Heißluftballon geschenkt. Sogar Strolchi, Angelos Dackel, haben wir damit schon fliegen lassen! Anna hat dafür eine ganz neuartige Fernsteuerung mit einem Laser konstruiert. Sie kann sowas richtig gut!“

Ich bin baff. Dieser Ballon könnte uns tatsächlich helfen, Zotti in die Tierklinik zu bringen! Nun müsste Angelo allerdings auch bereit sein, uns den Ballon für Zotti auszuleihen.

Da Elie gute Beziehungen zu Angelos Eltern und zudem noch etwas bei Angelo gut hat, bekommen wir den Ballon. Es handelt sich um einen Miniaturheißluftballon mit einem winzigen Körbchen, in das Zotti zwar hineinpasst, aber sonst niemand mehr.

Hier werde ich unterbrochen. „Doch! Ich passe dort noch hinein!“ ruft Mina. „Ich kann kann mit Zotti in dem Ballon zur Klinik fliegen. So muss er nicht allein sein, und ich kann auch den Ärzten alles erklären, wenn wir ankommen. Ihr könnt ja zu Fuß durch den Wald nachkommen.“

II. ZOTTI IM HEISSLUFTBALLON

Nun ist Eile geboten. Zotti ist weiterhin nicht ansprechbar und sieht blass aus. Anatol feilscht mit Angelo um den Heißluftballon – endlich gelingt es ihm, Angelo zu überzeugen, ihm das Luftfahrzeug zu überlassen. „Ich will meinen Ballon unversehrt zurück!“ jammert Angelo. „Ja, aber natürlich“ beruhigt Anatol ihn. „Wir bringen Dir Deinen Ballon zurück, sobald Zotti aus der Klinik kommt. Ganz sicher!“

„Sicher“ ist indessen nicht einmal, dass Zotti wohlbehalten in der Klinik ankommt. Anatol zieht es vor, dies Angelo vorerst nicht mitzuteilen.

IMG_3287Mina macht sich nun mit der von Anna konstruierten Lasersteuerung des Ballons vertraut. Zotti ist bereits in die Dinodecke eingewickelt und döst im Korb, der demnächst unter den Heißluftballon geschnallt wird.

Ich habe ein sehr mulmiges Gefühl bei der Sache.

Mina vermeldet, sie komme mittlerweile einigermaßen mit der Steuerung klar. Sie wolle jetzt gern losfliegen, damit Zotti so schnell wie möglich in der Klinik ankomme.

Angelo befestigt die Riemen, die den Korb mit dem Ballon verbinden, mit Klammern an den vier Ecken des Korbs. Nun wird der Korb auf den Balkon gestellt und der Gasbrenner gezündet.

Ich schlucke. Ob dieses Vehikel überhaupt für den Transport von lebenden Stofftieren geeignet ist? Der Gedanke kommt mir zu spät: schon schwebt der Heißluftballon vom Balkon über die Straße, erhebt sich über die Dächer der Häuser auf der anderen Straßenseite, steigt und höher und höher in den Himmel, bis er nur noch ein schwarzes Pünktchen am Horizont ist. Anatol, Elie und Angelo starren dem Ballon ungläubig hinterher.

„So lang und so hoch ist der noch nie geflogen!“ stammelt Angelo. Mir wird schwarz vor den Augen.

„Weiss Mina überhaupt, wo die Klinik liegt und wo sie hinfliegen muss?“ rufe ich entsetzt.

„Ja, klar“ sagt Elie. „Ich habe ihr gesagt, sie muss immer geradeaus fliegen, und ganz am Schluß rechts rüber. So sind wir ja damals auch zur Klinik gekommen.“

Anatol guckt Elie fassungslos an. „Wie soll sie denn mit so einer Wegbeschreibung auch nur irgendwo ankommen, Elie?“

Das Telephon klingelt. Es ist Mina, die umsichtigerweise ihr Funkgerät mitgenommen hat. Im perfekten Pilotenstil vermeldet sie: „Wir haben nun unsere maximale Flughöhe erreicht. Turbulenzen erfahren wir kaum. Der Ballon fliegt zügig und wir werden unser Ziel, den Hainberg, in Kürze erreichen. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir die genauen Koordinaten der Klinik übermitteln würdet, d.h. Längen- und Breitengrad. Ich brauche diese Angaben, um mit Hilfe von Annas Steuerungsgerät unsere Punktlandung vorzubereiten.“

Wir sind perplex ob dieser Professionalität unserer Mina. Sie hat die Situation sichtlich voll im Griff, während wir – Anatol, Elie, Angelo und ich – zitternd vor Aufregung noch auf dem Balkon stehen.

Längen- und Breitengrad der Klinik erfahren wir vom Wildschwein, das glücklicherweise telephonisch zur Verfügung steht. Nachdem die Koordinaten an Mina übersandt sind, müssen wir uns schnellstens auf den Weg machen – denn wir wollen ja in der Klinik sein, wenn Zotti dort behandelt wird.

III. IM HAINBERG

Wir bringen Angelo nach Hause, nicht ohne uns gebührend für den Ballon bedankt zu haben, ohne den wir Zotti nicht in die Klinik hätten bringen können.

Dann setze ich mich aufs Fahrrad und fahre so schnell ich nur kann in Richtung Hainberg. Anatol und Elie sitzen im Rucksack – sie ängstigen sich ein wenig vor dem dichten Wald. Deshalb wollen sie sicherheitshalber nicht zu genau sehen, wo wir entlangfahren.

Wie bei unserer letzten Reise in die Tierklinik müssen wir auch diesmal das Fahrrad im Wald zurücklassen, als das Dickicht uns nicht weiterfahren lässt. Dann beginnt unser Fußmarsch durch das dichte Unterholz.

Schon nach kurzer Zeit haben wir die Orientierung verloren. Anatol schimpft: „Wir müssen da links entlang!“ Elie kontert: „Quatsch! Hier rechts rüber, dann ist es gleich dahinten.“ Ich hingegen meine, unser Weg müsse uns vielmehr geradeaus weiterführen, und versuche erfolglos, dies den Sauriern nahezubringen. Seufzend hole ich das Handy aus der Tasche, um ein weiteres Mal das Wildschwein anzurufen – und muss feststellen, dass im tiefen Wald kein Mobilfunknetz zur Verfügung steht.

Die Saurier zetern und streiten – ich verliere die Geduld. Wütend – und hilflos – herrsche ich die beiden Streithähne an, endlich Ruhe zu geben. Voller Schreck verstummen die Butler. Ich führe dies auf meinen Autoritätsanfall zurück, bis ich feststelle, dass beide Saurier schaudernd ins Unterholz starren. Dort zeichnen sich die Umrisse eines großen Tieres ab. Genau kann ich nur die spitzen Ohren erkennen, von denen regelrechte Pinsel abstehen.

Es gibt keinen Zweifel: aus dem Dickicht heraus beobachtet uns in unmittelbarer Nähe ein riesiger Luchs.

Der Schreck fährt mir in die Glieder. Ein Luchs ist ein Raubtier. Obwohl er zu den „Kleinkatzen“ gezählt wird, hat dieses Tier nichts mit meinen Schmusekatzen gemein. Schließlich ist der Luchs die größte Katze Europas.

Elie flüstert „Frisst der uns jetzt auf?“ Anatol kramt im Rucksack. „Haben wir nicht noch eine Dose Katzenfutter dabei, die das Tier gnädig stimmen könnte?“ zischelt er.

Ich wispere den Butlern zu, sich nicht zu bewegen. Vielleicht hat der Luchs uns bisher nicht als Beute angesehen, und geht nun einfach seiner Wege?

Dies ist indes nicht der Fall. Der Luchs bewegt sich einen Schritt auf uns zu – ich erwäge, so schnell es nur geht auf den nächsten Baum zu klettern, da knurrt der Luchs „Ich weiss, wo Ihr hinwollt. Ihr sucht die Klinik. Vor mir braucht Ihr heute keine Angst zu haben. Die Zwerge haben mich letztens aus einer Falle gerettet, in die ich mit meiner Pfote geraten war. Da werde ich bestimmt niemanden auffressen, der zu ihnen will. Folgt mir einfach, dann zeige ich Euch den Weg.“

Zögernd und mit gebührendem Abstand bahnen wir uns einen Weg durch das Dickicht, immer dem Luchs hinterher. Wenn man genau hinsieht, merkt man, dass er ein wenig hinkt. Es muss eine Folge seiner Verletzung durch die Falle sein. Glücklicherweise scheint sie den Luchs bei seinen Streifzügen durch den Wald nicht zu stören.

Eine Stunde – oder war es doch länger? – später erreichen wir endlich die Lichtung, auf der die Tierklinik der Zwerge steht. Wir wollen uns bei dem hilfreichen Luchs bedanken – doch wo ist er? Eben noch war er vor uns und zeigte uns den Weg an … nun ist er lautlos im Wald verschwunden.

IV. IN DER KLINIK

Die letzten Meter zur Klinik laufen wir. Vor dem Eingang sehen wir Angelos Heißluftballon – der Korb ist verlassen und der Ballon liegt als leere Hülle auf dem Rasen.

Die Glastür öffnet sich und wir stehen an der unbesetzten Patientenaufnahme. Offenbar gehört auch dies zu den Aufgaben der streikenden Ameise. Ein Glöckchen steht bereit, ich klingele damit.

Eine Krähe hüpft aus dem Schwesternzimmer. Mit ihrem weissen Schwesternhäubchen auf dem Kopf sieht ihr scharfer Schnabel weniger gefährlich aus, was mich beruhigt.

„Guten Tag. Ich bin der Oberpfleger. Leider ist die Aufnahme heute streikbedingt nicht besetzt. Sie können aber alles weitere mit mir besprechen“ sagt die Krähe freundlich.

„Wir kommen wegen Zotti. Er muss vorhin mit dem Heißluftballon bei Ihnen angekommen sein.“

Die Krähe studiert ihre Unterlagen. „Ja, ich habe ihn hier. Zotti, sehr alter Teddybär … er ist auf der Intensivstation. Ich rufe den behandelnden Arzt, er wird Ihnen alles mitteilen.“

Entsetzt sehen wir uns an. Auf der Intensivstation? Das klingt sehr ernst. Elie beginnt, zu schluchzen. Anatol beisst die Zähne zusammen. Ich versuche, die Butler zu beruhigen. „Zotti ist hier in den besten Händen. Erinnert Euch: das Wildschwein ist auch auf der Intensivstation. Zotti ist in guter Gesellschaft. Sicher erzählen sich die beiden schon Witze!“

Was ich den Sauriern nicht erzähle, ist dies: die Magenpumpe steht auf der Intensivstation der Tierklinik, daher war das Wildschwein zunächst dort gewesen. Nachdem die giftigen Spuckpilze herausgepumpt waren (diese Prozedur muss das Wildschwein leider öfter über sich ergehen lassen), muss es auf die normale Krankenstation gebracht worden sein. Da es sich aber gern ein wenig wichtig tut, hatte es uns von der Intensivstation erzählt – um seine Krankengeschichte etwas dramatischer aussehen zu lassen. Zotti ist aber wohl wirklich wegen seines besorgniserregenden Zustands auf der Intensivstation.

Die Intensivstation ist im zweiten Stock der Klinik und kann nicht einfach so betreten werden. Wir warten vor einer verschlossenen Doppelschwingtür, durch die ab und zu Klinikpersonal mit Mundschutz und Handschuhen geht … eine bedrückende Atmosphäre. Der beim letzten Besuch so angenehme Wartegarten kann im Winter natürlich nicht aufgesucht werden. Es ist einfach zu kalt.

Nach endloser Wartezeit – die Butler sind längst eingeschlafen und schlummern im Rucksack – kommt der mittlere Zwerg durch die Schwingtür. Er lächelt freundlich, aber ich sehe, dass er doch ernste Nachrichten hat.

„Zotti ist leider immer noch in einem bedrohlichen Zustand. Wir konnten ihn mit Infusionen glücklicherweise stabilisieren. Manche Blutwerte laufen noch, aber wir können jetzt schon sehen, dass Zotti extreme Mangelerscheinungen hat. Wann haben Sie Zotti das letzte Mal gefüttert?“

Ich erbleiche. Vermutlich habe ich Zotti Mitte der Siebziger Jahre das letzte Mal etwas zu Fressen gegeben – Zotti mochte es damals, zum Frühstück etwas Marmeladentoast zu bekommen. Dies teile ich dem mittleren Zwerg schuldbewusst mit.

„Ihr Teddybär hat also seit etwa 40 Jahren nichts mehr gegessen. Da haben wir schon das Problem. Wir werden Zotti nun mit Infusionen und Astronautenkost ernähren, bis es ihm wieder besser geht. Danach verordnen wir normale Hausmannskost, gern auch wieder Marmeladentoast. In etwa einer Woche sollte Zotti wieder ganz der Alte sein.“

Eilig verabschiedet sich der mittlere Zwerg und bittet uns, morgen wieder anzurufen (die Zentrale sei dann besetzt). Für heute könne man nichts weiter tun, als Zotti ruhen zu lassen.

Wo ist Mina? Mina hat sich mit dem kleinen Zwerg angefreundet und erklärt ihm soeben die Steuerung des Heißluftballons. Wir verabreden, dass Mina mit dem Ballon in der Tierklinik bleibt, bis es Zotti besser geht.

Erleichtert machen wir uns auf den Rückweg, nachdem wir unserer Eskorte, dem Luchs, mit Hilfe des Klinikpersonals ein sehr üppiges Mahl serviert haben.

Die Saurier – und ich – finden es beruhigender, von einem satten Luchs durch den Wald geführt zu werden.

Zu Hause beschließen wir, dass Zotti in Zukunft mindestens einmal am Tag ein dick bestrichenes Marmeladentoastbrot bekommen wird.

MINA IN DER TIERKLINIK

Wie ich ja schon bei Elie und Anatol geschrieben habe, ist Mina, Elies kleine schwarz-weisse Stoffkuh, schwer krank.

Mina hatte plötzlich nichts mehr essen wollen und starke Bauchschmerzen bekommen. Es hatte ihr ihr sogar wehgetan, wenn Elie sie streichelte. Elie hatte ratlos an Minas Bettchen gesessen … Nachdem er Mina das 10. Glas Tee gebracht hatte, das unberührt kalt wurde, hatte Anatol kurzentschlossen die Nummer der Tierklinik der Zwerge gewählt – und der diensthabende kleine Zwerg hatte uns eindringlich nahegelegt, ohne zu Zögern mit Mina in die Klinik zu kommen. IMG_3002

Nach kurzem Beratschlagen waren wir übereingekommen, mit Anatols neuem Fahrrad in die Klinik zu fahren: die Drachenfluglinie streikte gerade und mit dem Auto kann man nicht in den Hainberg fahren. Das Trekkingrad schien das am besten geeignete Vehikel, um die Klinik schnell und auf dem kürzesten Weg zu erreichen.

Heute früh im Morgengrauen ist es soweit: Elie, Anatol und ich machen uns – Mina in der Krankentransporttasche – mit dem Fahrrad auf den Weg in Richtung Hainberg. Hier biegen wir in den Waldweg „Die lange Nacht“ ein und folgen ihm, bis es nicht mehr weitergeht. Ein kaum wahrnehmbarer Pfad führt mitten hinein in den Wald.

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Goettinger Landwehr 01“ von Jan Stubenitzky (Dehio) – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Anatol flüstert: „Hier ist es. Das ist der Geheimweg zur Tierklinik. Ich bin mir ganz sicher.“

Der Pfad ist so schmal und das Unterholz so dicht, dass wir vom Fahrrad absteigen müssen. Bald ist klar, dass das Rad nicht einmal mehr geschoben werden kann – wir müssen es zurücklassen und zu Fuss weitergehen. Anatol schließt sein neues Fahrrad voller Sorge an eine Buche, während ich ihn beruhige: in diesen Teil des Waldes verirrt sich schon ein normaler Mensch nicht – ein Fahrraddieb dann erst recht nicht.

Wir gehen weiter. Schon nach wenigen Metern hat der Wald das Rad verschlungen – wir können weder den hellblauen Rahmen mehr sehen noch die gelben Reflektoren. Anatol schluckt.

Mina beginnt wieder, sich in ihrem Transportschlafsack zu winden und zu stöhnen. Elie schluchzt laut auf: „Wir kommen zu spät! Es geht Mina so schlecht – ich habe Angst, dass sie es nicht schafft! Du musst schneller laufen!“

Gerade will ich den beiden Butlern erklären, dass ich einfach nicht schneller laufen kann, da der Weg voller Wurzeln und sich windendem Unterholz ist – da knackt und kracht es laut neben uns in den Büschen. Ich erschrecke – was ist das für ein Geräusch?

Die Umrisse einer riesigen Gestalt lösen sich aus dem Gebüsch. „Anatol, wo ist mein Taschenmesser?“ zischele ich dem Saurier zu. Dieser ist allerdings tief in meinen Rucksack abgetaucht – voller Angst vor dem Ungeheuer, welches aus dem Wald auf uns zukommt!

Völlig unbewaffnet und dementsprechend wehrlos stehe ich vor dem Ungetüm – einen kleinen rosa Rucksack auf dem Rücken, in dem die zitternden Butler und die kranke Mina sich aneinanderkrallen. Ich balle die Fäuste – zumindest will ich mich nicht kampflos ergeben.

Das lärmende Untier ist ein gigantisches Wildschwein. Freundlich brummt es: „Der kleine Zwerg schickt mich. Ich soll Euch und die kleine Patientin hier abholen. Wir dachten uns schon, dass Ihr allein nicht weiterkommt hier im Dickicht. Steigt mal auf, ich bringe Euch zur Klinik.“

Ich bin so entgeistert, dass ich mich nicht einmal frage, wie man wohl auf einem Wildschwein reiten könne – und einen Moment später sitze ich bereits auf dem Rücken des Keilers, der nun im Schweinsgalopp durch den Wald jagt.

Eine Viertelstunde später treffen wir in der Klinik ein, wo das Wildschwein uns recht formlos an der Notaufnahme ablädt.

Mina atmet noch, aber es geht ihr sehr schlecht. Ein Zwerg schießt aus der Tür heraus, eine fahrbare Krankentrage hinter sich herziehend. Wir betten Mina darauf, und schon ist der Zwerg mit ihr in der Klinik verschwunden – in der Intensivstation.

Elie bricht in Tränen aus. Wir haben es geschafft, Mina bis in den Hainberg zu bringen, die ganze Lange Nacht entlang, durchs Unterholz und dann mit dem Wildschwein-Krankentransporter bis zur Klinik … nun können wir nichts weiter tun als warten und hoffen, dass das ärztliche Geschick der Zwergenmediziner Mina wird retten können.

Ein etwas größerer Zwerg im weissen Arztkittel kommt durch den Hof auf uns zu. „Sie müssen die Familie von Mina sein, nicht wahr?“ Wir nicken.

„Mina wird jetzt von unserem Intensivmedizinerteam behandelt. Es wird alles für sie getan, was in unserer Macht steht. Wir wissen allerdings noch nicht, was Mina fehlt. Bevor wir sie genauer untersuchen können, müssen wir Mina zunächst stabilisieren. Ich werde Sie über jeden Fortschritt auf dem Laufenden halten.“

Der Zwerg – wir vermuten, dass es sich um den mittleren Zwerg handelt – führt uns den Wartegarten: Blumenbeete sowie Kräuter- und Gemüsekästen sind dort sehr hübsch angelegt. Gartentische und -stühle und eine bequeme Liege stehen ebenfalls für uns bereit. „Dieser Garten ist für die Angehörigen unserer Patienten. Sie können hier einfach ausruhen und lesen – aber wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie auch etwas gärtnern. So vergeht die Wartezeit schneller.“

Der Zwerg lässt mir einen Stoß Papiere zum Ausfüllen da (die Gesundheitsreform hat auch in der Tierklinik der Zwerge Einzug gehalten), Anatol und Elie bekommen Schäufelchen und eine Harke – so können sie sich an einem halbfertigen Gemüsebeet zu schaffen machen und müssen nicht alle zwei Minuten fragen, wie lang es denn noch dauern werde …

Der Vormittag vergeht … zu Mittag bekommen wir eine herrliche Blütensuppe mit Kapuzinerkresse – sehr zuvorkommend von der Ameise serviert. Das Wildschwein frisst nebenan in seiner Sandgrube Eicheln, die Elie mit ihm gesammelt hat. Leider erlauben die Tischmanieren des Wildschweins kein gemeinsames Mahl.

Es wird Abend … immer noch haben wir keine Nachrichten von Mina, außer der Tatsache, dass Mina operiert werden muss…

Wir frösteln: ein kühler Wind ist aufgezogen. Langsam müssen wir uns um eine Unterkunft kümmern: uns ist klar, dass Mina heute abend nicht entlassen wird – wenn sie überhaupt wieder gesund wird. Elie laufen Tränen aus den Augen.

Da – der mittlere Zwerg mit seinem eleganten weissen Anzug kommt durch die Glastür in den Garten. „Minas Operation ist gut verlaufen. Es wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen, bis es Mina wieder besser geht.“

Wir atmen etwas auf – diese Nachricht ist eindeutig positiv. „Was fehlte Mina denn?“ frage ich den mittleren Zwerg.

„Von Fehlen kann im Grunde keine Rede sein … Mina hatte im Gegenteil deutlich zu viele Sachen in ihrem Bauch, die dort nicht hingehören. Plastikfiguren, Flummis und mehrere Stoffmäuse … sind Sie sicher, dass Sie Mina ausreichend füttern?“

Das Blut weicht mir aus dem Gesicht. Was haben die Butler Mina zu essen gegeben? Scharf sehe ich Elie und Anatol an.

Anatol zuckt ratlos mit den Schultern. „Mina bekommt genau dasselbe zu essen, wie wir alle … ich kann mir das nicht erklären!“

Elie hingegen hat plötzlich einen hochroten Kopf. Auch habe ich das Gefühl, dass er gerade am liebsten im Erdboden versinken möchte. Was hat der Saurier zu verbergen? Ich packe ihn am Schlafittchen: „Elie, muss ich Dir erst die Ohren lang ziehen, bevor Du uns sagst, womit Du Mina fütterst?“

Elie jammert. Er habe Mina die Sachen nicht zu essen gegeben! Er wisse doch selbst, dass man so etwas nicht verschlucken darf. Er habe Mina nur erzählt, dass am nächsten Tag gutes Wetter werde, wenn man immer brav alles aufesse! Dabei habe er allerdings nicht die Flummis und Spielmäuse der Katzen gemeint … Mina müsse systematisch alles aufgefuttert haben, was auf dem Boden herumgelegen habe.

Da es tagelang geregnet hat, muss sie sehr motiviert gewesen sein.

Der mittlere Zwerg runzelt die Stirn. „Solche Fälle hatten wir bisher nur bei Katzen und Hunden, die am Pica-Syndrom litten. Bei Stoffkühen ist uns das neu. Leider war der operative Aufwand bei den 4 Mägen, die Mina hat, extrem hoch. Als Privatklinik müssen wir das mit dem dreifachen Satz abrechnen. Ich hoffe, Sie sind gut für Mina versichert.“

Mir wird schwarz vor den Augen. Selbstverständlich habe ich für Mina keine Versicherung. Elie wird nun eine ganze Weile kein Taschengeld bekommen – bis die Operation und der zweiwöchige Klinikaufenthalt, der auf die Operation folgen wird, abbezahlt sind.

Die Zwerge sind glücklicherweise kulant und bieten uns eine bequeme Ratenzahlung an. Dennoch wird die Klinikrechnung ein tiefes Loch in unsere Haushaltskasse reissen.

In unserem Hause wird nie wieder gutes Wetter vom Aufessen einer Mahlzeit abhängig gemacht werden.